Vortrag Gutenberg-Bund

Spalter, Klassenverräter oder verkannte Gewerkschafter?

Geschichte und Erbe des Gutenberg-Bundes 1893-1933

Mögen die gelben Gewerkschaften noch so brutal offen erklären, dass ihr Prinzip sei, bei Streiks ihren Brüdern in den Rücken zu fallen, mögen jene Unternehmerschutztruppen zu jeder Niederträchtigkeit bereit sein, wenn es sich um elende Verräterdienste gegen das eigene Fleisch und Blut handelt, sie machen wenigstens kein Hehl aus ihrer traurigen Mission; zynisch offen geben sich jene ‚organisierten’ Arbeiter, wie sie sind, und man weiß, wie man mit ihnen dran ist, aber ungleich hässlicher und verächtlicher war von jeher die Haltung des Gutenbergbundes.“1

Dieser Satz voller Häme und Verachtung findet sich in einer 1907 veröffentlichten Broschüre. Obgleich es sich um eine verfasserlose Schrift handelt, wird aus vielen Quellen deutlich, dass es sich um die Schrift des Redakteurs des freigewerkschaftlichen „Korrespondent für Deutschlands Buchdrucker und Schriftgießer“, Ludwig Rexhäuser, handelt, der zwar eine scharfe Klinge schlagen konnte, aber alles andere als ein radikalsozialistischer Scharfmacher war.

Nicht vom „Versmaߓ, aber doch von der Eindeutigkeit her, erinnert das Zitat ein wenig an die in vielen Arbeitskämpfen oft benutzte Schmähung Jack Londons: „Nachdem Gott die Klapperschlange, die Kröte und den Vampir geschaffen hatte, blieb ihm noch etwas abscheuliche Substanz, und daraus machte er einen Streikbrecher.“

Nun wissen wir aus der schönen Biographie von Gerta Stecher: Karl Richter. Ein langes Leben für die „Schwarze Kunst“ und ihre Gewerkschaften, dass Karl Richter, langjähriger Vorsitzender der Berliner IG Druck und Papier und Namensgeber dieses verdienstvollen Vereins „Ende der 70er Jahre aus eigener Tasche drei Viertel der Kosten für die Restaurierung der Traditionsfahne des 1892 gegründeten Gutenberg-Bundes beglichen“ hatte.2

Es stellt sich also die Frage: Hat Karl Richter sein privates Geld für eine antigewerkschaftliche Organisation ausgegeben? Und: Sollte man die Traditionsfahne des Karl-Richter-Vereins nicht eher heute als morgen aus diesem traditionsreichen Haus der deutschen Buchdrucker beseitigen?

Ich möchte im Folgenden in angemessener Weise (knapp, aber für das Verständnis ausführlich genug) die Geschichte des Gutenberg-Bundes skizzieren. Für diese Skizze bietet sich ein „historischer Dreisprung“ an: Die Zeitspanne 1892/1893 bis 1907, die Zeitspanne 1907 bis 1917 und die Zeitspanne 1917 bis 1933. Zwischendurch möchte ich einen Blick auf das Verhältnis Gutenberg-Bund/Verband der deutschen Buchdrucker werfen. Abschließend versuche ich die Frage zu beantworten: Warum ist es wichtig, sich auch mit Organisationen historisch zu beschäftigen, die einem auf den ersten Blick (und vielleicht auch auf den zweiten Blick) nicht besonders sympathisch sind und die auch nicht besonders wirkungsmächtig aufgetreten sind.

Diese Frage möchte ich mit ein paar biographischen Details beleuchten. Nichts ist so spannend wie richtiges „gelebtes Leben“; dies gilt auch für richtiges „gelebtes Gewerkschaftsleben“. Ich denke, die biographische Methode ist die richtige Methode, um hier Aufschlüsse zu erlangen.

Jüngere Sozialhistoriker und Sozialhistorikerinnen verlangen heute viel, wenn man sich an ein neues Thema traut: Mann soll Organisationsgeschichte national und international vergleichen. Der schlimmste Vorwurf, dem man ausgesetzt sein kann, lautet: „Engführung“. Man ist gehalten, Verbandsgeschichte historisch zu Kontextualisieren; also breit einzubetten. All das wird schon aus zeitlichen Gründen nicht zu leisten sein.

Dennoch glaube ich, dass die Auseinandersetzung mit einer kleinen Organisation hilfreich ist, weil Abspaltungen und Neugründungen wichtige Spiegel sind, um Prozesse innerhalb der großen gewerkschaftlichen und politischen Organisationen zu erhellen und besser verständlich zu machen.

Der 1866 gegründete „Deutsche Buchdruckerverband“ hatte nicht nur das Sozialistengesetz (1878-1890) als „Unterstützungsverein deutscher Buchdrucker“ durch geschmeidige Anpassung und sehr vorsichtige Strategie als einer der wenigen Gewerkschaftsorganisationen relativ unbeschadet überstanden. Die Druckerorganisation hatte es in ihrer 25jährigen Geschichte auch geschafft, dass keine gewerkschaftliche Konkurrenzorganisation neben ihr groß geworden war.

In der Frühphase der deutschen Arbeiterbewegung (also in den späten 60er und frühen 70er Jahren des vorvorigen Jahrhunderts) standen sich die liberalen Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine und die sozialistisch orientierten Gewerkschaften noch relativ gleichstark gegenüber. Erst in den achtziger Jahren gewann die sozialistische Gewerkschaftsbewegung einen großen Vorsprung. In allen klassischen Gewerken existierten zwei gewerkschaftliche Strömungen.3

Dass es nicht zur Gründung einer liberalen Druckergewerkschaft kam, war der besonderen Verbandspolitik des Druckerverbandes geschuldet. Als einzige Gewerkschaftsorganisation innerhalb der sozialistischen Gewerkschaftsfamilie blieb er den politischen Arbeiterparteien gegenüber (ab 1875 einer einzigen Arbeiterpartei) „neutral“ und mit seiner praktizierten „Konfliktregelungspolitik“, dem Abschluss langfristiger Tarifverträge, stand er den liberalen Gewerkschaften durchaus nahe. Der Buchdruckerverband (seit 1892: Verband der deutschen Buchdrucker) blieb konkurrenzlos. (Dass diese „neutrale“ Politik umstritten und umkämpft war, ist in der Literatur breit abgehandelt, soll allerdings heute nicht das Thema sein.)

Der unumstrittene Alleinvertretungsanspruch endete jäh nach dem großen Buchdruckerstreik an der Jahreswende 1891/1892. Dieser Streik war der dritte heftige Großstreik im graphischen Gewerbe (nach dem sog. Leipziger Dreigroschenstreik 1865 und Streiks der Jahre 1872/1873) und er sollte sich regelrecht in das kollektive Bewusstsein der Buchdrucker einbrennen. Noch in den frühen 1950er Jahren berichteten alte Berliner Mitglieder in den „Graphischen Nachrichten“, dem Organ der Berliner IG Druck und Papier, wie sie die Auswirkungen des Streiks erlebt hatten. Es gab im gleichen Blatt sogar einen Aufruf, schriftliche Erlebnisse einzureichen, was dieser Streik „mit einem gemacht habe“. Bis zum Verbot der Gewerkschaften 1933 blieb dieser Streik unter den rivalisierenden Verbänden ein Thema. Der Streik 1891/1892 sollte der letzte große Streik in Deutschland im graphischen Gewerbe bis in die fünfziger Jahre hinein sein.

Im Kern ging es bei dem Kampf um Lohnerhöhungen von 12,5% und die Reduktion der täglichen Arbeitszeit um eine Stunde. Der Fall des Sozialistengesetzes und die großen Wahlgewinne der Sozialdemokratie erzeugten eine „revolutionsoptimistische“ Stimmung. Die internationale sozialistische Arbeiterbewegung erhob den 1. Mai zum Kampftag, der Sieg der Arbeiterbewegung schien nur noch eine Frage der Zeit zu sein. Hinzu kam 1890 ein Konjunkturboom, der die Chancen der organisierten Gewerkschaftsbewegung deutlich zu verbessern schien. Das Zeitalter vertraglicher Arbeitsbeziehungen zwischen den Prinzipalen und den Gesellen schien im Druckgewerbe sich dem Ende zuzuneigen. 1891 hatten im Druckerverband die Stimmen die Oberhand gewonnen, die den Tarifgedanken zu Grabe tragen wollten.

Der Druckerstreik war eingebettet in einen großen europäischen Streikzyklus. In Frankreich, England und Deutschland wurde zur gleichen Zeit massenhaft gestreikt. Das Ergebnis der Streikbewegung in Deutschland war ein Desaster: Die leistungsstärksten Gewerkschaften der Tischler, Maurer, Zimmerer, Metallarbeiter, Tabakarbeiter und Drucker erschöpften völlig ihre Kassen. Karl Michael Scheriau hat die Auswirkungen auf den Buchdruckerverband plastisch beschrieben: „Die Folgen des Arbeitskampfes waren verheerend für die Verbandskasse. Das Jahr 1890 hatte der Buchdruckerverband noch mit einem Vermögen von 466.799 Mark abgeschlossen. Damit war der Buchdruckerverband die reichste Gewerkschaft Deutschlands. Innerhalb von zwei Jahren verzehrten die Unterstützungsleistungen des Verbandes sowohl für die streikenden als auch für die anschließend arbeitslosen Mitglieder fast das gesamte Verbandsvermögen.“4

Die Arbeitgeberseite handhabte in allen westlichen kapitalistischen Staaten die Mittel der Aussperrung, der schwarzen Listen und die Forderung nach Gewerkschaftsaustritt „meisterhaft“, wie es mein langjähriger Arbeitskollege Friedhelm Boll in seiner großen vergleichenden Streikstudie zähneknirschend zugeben musste.5 In Hamburg reduzierte sich die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder auf ein Drittel. Diese gewaltige Niederlage hatte übrigens weitreichende organisatorische Konsequenzen (Zentralisation von Kassen etc.), die wiederum bis in den Alltag der bundesdeutschen Nachkriegsgewerkschaften hineinreichten.

Historiker sehen in den massenhaften Streikniederlagen übrigens den zentralen Grund, der ab 1894 in Deutschland zu systematischen Gründungen nichtsozialistischer christlicher Gewerkschaften führte.6

Im Buchdruckerverband kam es nach der demütigenden Niederlage, die eine fünfjährige tariflose Zeit einläutete, zu heftigen Diskussionen. Auch zu Diskussionen darüber, dass die deutsche Sozialdemokratie den Buchdruckern Kredit gegeben hatte und der Streik zu einem politischen Streik ausgeufert sei. Außerdem – so die Kritiker – sei die Streikniederlage durch zu weitgehende Forderungen und unflexible Streikführung vorprogrammiert gewesen. Dramatische Konsequenzen der Kritik: Es kam zu Abspaltungen im Reich.

Am 10. Oktober 1892 gründeten ca. 200 Mitglieder den Berliner Buchdrucker Verein; stolz präsentierten die Berliner Oppositionellen kurze Zeit später 400 Mitglieder, die vorher überwiegend im freigewerkschaftlichen Buchdruckerverband organisiert waren.7 Als treibende Kraft wirkte Robert Hermann (geboren am 23. Januar 1857), technischer Leiter in einer nationalkonservativen Druckerei.

Die zentralen Vorwürfe an die große Bruderorganisation lauteten: Auslieferung der Organisation an die Sozialdemokratische Partei Deutschlands, Ruinierung aller Unterstützungskassen und damit Enteignung der Mitglieder, Aufgabe der Tarifgemeinschaft. Abspaltungen erfolgten reichsweit. Auch in der südwestdeutschen Druckmetropole Stuttgart war ein unabhängiger Verband gegründet worden, der ein eigenes Blatt “Der Typograph” herausgab. Dieses Blatt übernahm nun im April 1893 der Berliner Buchdrucker-Verein.

Eine erste Delegiertenkonferenz der „Nichtverbändler“, d.h. alter Lokalvereine, die dem Buchdruckerverband fern standen, und abgesplitterte Organisationen traten am 3. und 4. September 1893 in der thüringischen Metropole Erfurt zusammen. 23 Delegierte aus 12 Städten waren anwesend. Die Konferenz hob eine zweite Buchdruckerorganisation, den Gutenberg-Bund, aus der Taufe. Was waren nun die zentralen Forderungen der Oppositionellen? Welche Ziele verfochten sie? Wie war der Charakter der Organisation einzuschätzen?

Ganz im traditionellen Sinne der Buchdruckertradition beschlossen die Delegierten die breite Gründung diverser Unterstützungskassen. Zentrales Ziel – und das zog sich wie ein roter Faden durch alle Diskussionsbeiträge – war die Wiederherstellung der 1891/1892 zerbrochenen Tarifgemeinschaft. Zwischen den Zeilen schimmerte durch, dass die Rebellen erhofften, ein Gutteil der 20.000 Nichtverbändler in die Organisation zu integrieren und den Buchdruckerverband wieder zur Rückkehr zur Tarifgemeinschaft zu bewegen.

Nähern wir uns nun der zentralen Frage. Handelte es sich bei der neuen Organisation um eine Gewerkschaft? Die Antwort lautet: Nein. Der neu etablierte Gutenberg-Bund blieb eine Unterstützungseinrichtung, die versuchte, identische Unterstützungsleistungen aufzubauen wie der freigewerkschaftliche Buchdruckerverband. Allerdings verankerten die Delegierten in der Satzung einen „Neutralitätsparagraphen“, der ausschloss, dass die Kassen bei Arbeitskämpfen eingesetzt werden konnten. Auch fehlte jeder strategische Hinweis darauf, was denn nun geschehen sollte, wenn die Prinzipale die angebotene Sozialpartnerschaft ausschlugen. In allen programmatischen Beiträgen schimmerte die Hoffnung durch, dass der „antiradikale“ Kurs des Gutenberg-Bundes irgendwann belohnt werde. Und dies war genau der Schwachpunkt, den der Buchdruckerverband propagandistisch genüsslich ausschlachtete.

Zur Soziologie der neuen Organisation

Welche Gruppen schlossen sich der neuen Organisation an? Wo kamen sie her? Aus welchem Milieu rekrutierten sie sich? Wie waren sie sozialisiert?

Ideen entwickeln sich nicht im luftleeren Raum. Es braucht Träger sozialer Ideen. Für den Buchdruckerverband lag die Antwort auf der Hand: Bei den Abgespaltenen handelt es sich um einen „Faktorenverein“, also eine Vereinigung leitender Angestellter, die per se keine Gehilfeninteressen vertreten können. An dieser polemischen Behauptung ist durchaus etwas „dran“. Zu den Gründungsmitgliedern zählten Faktoren, die sich allerdings alsbald (spätestens 1896) zurückzogen. Nun verfügen wir nach so langer Zeit über keine angemessenen Unterlagen, um kollektive Biographien zu rekonstruieren. Außer der Verbandszeitung haben sich fast keine Primärquellen erhalten.

Ich denke: Die individualbiographische Methode bietet hier gute Ansatzmöglichkeiten. Auch die geographische Verteilung der Ortsgruppen des Gutenberg-Bundes bietet interessante Aufschlüsse: Die Gruppen sind deutlich auf Preußen und dort auf Berlin, Provinz Brandenburg und Schlesien konzentriert. Das rheinisch-westfälische Industriegebiet fehlt völlig. Das Verhältnis von Protestanten zu Katholiken lag bei 5 : 2.

Werfen wir jetzt einen Blick auf zwei ausgewählte Biographien, so werden weitere Strukturelemente deutlich. Zu einem möchte ich Carl Illig vorstellen. Er wurde am 3. April 1844 in Frankfurt an der Oder geboren und erlernte dort das Druckerhandwerk. Anfang der sechziger Jahre siedelte er nach Berlin über und verwaltete dort als sehr junger Mann bis 1886 die „Ortskrankenkasse der Buchdrucker zu Berlin“. Der Brandenburger gehörte somit zu den Spezialisten, ohne die der Buchdruckerverband nicht hätte „groߓ werden können. Er arbeitet nach seiner „Kassenzeit“ als Drucker bei der Firma Ihring & Fahrenholtz und als über Sechzigjähriger als Korrektor. Illig gehörte der Freisinnigen Volkspartei an und leitete die Partei 12 Jahre lang in Adlershof bei Berlin.

Die Freisinnige Volkspartei – sozusagen der damalige linke Flügel des Liberalismus – wollte Gewerkschaften grundsätzlich anerkennen und forderte finanzielle Unterstützung von Selbsthilfeeinrichtungen sowie Abschaffung der Privilegien des Großgrundbesitzes. (Wie die Partei diese Forderungen ohne die Unterstützung der Sozialdemokratie durchsetzen wollte, blieb allerdings stets das Geheimnis des linken Freisinns.)

Illig steht mit seiner Biographie prototypisch für die Gruppe, die 1893 absplitterte; eigentlich verkörperte er den klassischen Vertreter der Hirsch-Dunckerschen liberalen Gewerkschaftsrichtung, der durch die spezifische Tarifpolitik des Buchdruckerverbandes allerdings Freigewerkschaftler blieb. Der liberale Drucker war Gründungsmitglied in Erfurt, übernahm im Juni 1898 den Vorsitz des Gutenberg-Bundes und engagierte sich stark in der nationalen und internationalen nichtsozialdemokratischen Arbeiterbewegung. Im Juni 1898 übernahm Illig den Vorsitz des Gutenberg-Bundes. Nach seinem Tod errichteten ihm die Kollegen ein Denkmal auf dem Luisenstädtischen Friedhof.8

Wilhelm Hofsäss ist der zweite Gewerkschafter, den ich kurz vorstellen möchte. Er wurde am 17. April 1873 in einem pietistischen Milieu in Gmünd in Schwaben als Sohn eines Schmuckarbeiters geboren. Auf seiner Wanderung kam der Schwabe nach Berlin und druckte dort das „Berliner evangelische Sonntagsblatt“. Dem Gutenberg-Bund trat er im Juni 1898 bei. Seine gesellschaftspolitische Heimat war die „Freie Kirchlich-Soziale Konferenz“, die von dem Generalsekretär und späteren Reichstagsabgeordneten Reinhard Mumm angeleitet wurde, der u.a. mehrere konservativ-protestantische Arbeitnehmerorganisationen, wie z.B. den Gewerkverein der Heimarbeiterinnen ins Leben rief.

Die evangelische Organisation stand der Christlich-Sozialen Partei nahe, die neben antikapitalistischen Programmelementen antisemitische Positionen vertrat, die heute nur noch abstoßend wirken. Dennoch: Uns geht es heute ja darum, historische Prozesse aus der spezifischen Situation zu verstehen, und ich möchte deshalb kurz aus dem Tagungsband einer von der Hans-Böckler-Stiftung und der Evangelischen Akademie Friedewald gemeinsam veranstalteten Tagung „Sozialer Protestantismus und Gewerkschaftsbewegung“ zitieren. In seinem Beitrag „Evangelische Sozialtheoretiker vor dem Problem der Gewerkschaften“ analysiert der Bochumer Theologe Günter Brakelmann (ein großer Antisemitismusforscher) die gesellschaftspolitische Position Reinhard Mumms, der für ein paar Jahre der Ideengeber des Gutenberg-Bundes war und manchmal an den Hauptvorstandssitzungen teilnahm: „Deutlicher kann ein Ja zur ordnungspolitischen Rolle von Gewerkschaften nicht formuliert werden. Die Generallinie der evangelisch-sozialen Bewegung vor 1914 ist eindeutig: Gesetzlich anerkannte Gewerkschaften haben die Aufgabe, in kollektiven Tarifverträgen mit den Arbeitgebern den Preis für die abhängige Arbeit festzulegen und die innerbetrieblichen sozialen Bedingungen zu bestimmen, unter denen die Arbeitshergabe geschieht. Der Staat setzt durch Arbeiterversicherungs- und Arbeitsschutzgesetzgebung die großen Rahmenbedingungen für ein menschenwürdiges Arbeitssystem im Ganzen.“9

Die hier skizzierten Prinzipien beeinflussten Hofsäss und andere nichtsozialistische Drucker. Hofsäss selbst gehörte zu den Protagonisten, die den Anschluss des Gutenberg-Bundes als konfessionell gemischten Verband an die christliche Gewerkschaftsbewegung forcierte. Als hauptamtlicher Redakteur hatte er weitreichenden Einfluss auf die innergewerkschaftliche Diskussion. Hofsäss, ein großer Rhetoriker, nahm 1910 das Amt eines hauptamtlichen Sekretärs der Evangelisch-sozialen Arbeiterbewegung in Bremen an. Er starb am 13. Februar 1911 als 38jähriger an einer Lungenentzündung.

Zwischenresümee: Beim Gutenberg-Bund handelte es sich um eine proletarische Gründung, die schwerpunktmäßig im protestantisch politischen Milieu verankert war. Die Träger waren politische Gegner der Sozialdemokratie; sie lehnten eine gesellschaftspolitische Transformation in eine sozialistische Gesellschaft ab, waren Anhänger des politischen Status quo und suchten im bestehenden System die Lage der Drucker, Schriftsetzer und Korrektoren zu verbessern. Die Organisation hielt das alte berufliche Ethos hoch: Sie nahm nur gelernte Gehilfen in ihre Organisation auf.

2. Zyklus: 1896-1907

1896 geschah das, was der Gutenberg-Bund programmatisch stets gefordert hatte: Die Wiedereinführung der Tarifgemeinschaft mit vielen ordnungspolitischen Elementen (Tarifausschuss, ein geschäftsführendes „Tarifamt“, Schiedsgerichte, Tarifschiedsgerichte). All diese ordnungspolitischen Instanzen waren paritätisch besetzt.

Nur: Die Einführung der Tarifgemeinschaft geschah nicht – so wie es der Gutenberg-Bund erhofft hatte – auf schiedlich-friedlichem Wege – sondern durch massive Streikdrohungen. In der Zwischenzeit hatte sich der Verband der deutschen Buchdrucker ökonomisch erholt und Mitgliederverluste mehr als ausgeglichen.10 Selbstsicher hatte der Gutenberg-Bund gehofft, als Organisation mit seinen Experten auf dem neuen Feld der Arbeitsbeziehungen eine wichtige Rolle zu spielen. Auch viele Prinzipale schienen bereit, dem Gutenberg-Bund als größte „Nichtverbändlerorganisation“ eine angemessene Rolle einzuräumen.11

Doch es kam anders: Der Verband der deutschen Buchdrucker setzte erfolgreich durch, dass er sein Vertragsmonopol behielt. Frustriert stellte der Typograph fest. „Der Würfel ist gefallen! Der Verband hat in Leipzig einen Sieg über den Gutenberg-Bund und die Nichtverbändler überhaupt errungen, wenigstens scheint es so.“12

Doch es kam für die „Bündler“ noch schlimmer: 1901 wurde im neuen Tarifwerk ein paritätisch besetzter Arbeitsnachweis verankert. Als der Gutenberg-Bund seinen verbandseigenen Arbeitsnachweis, der das Rückgrat der Organisation in Berlin bildete, nicht schnell genug auflöste, erklärte der „Tarifausschuss“ den Gutenberg-Bund für „tarifuntreu“.

Fünf Jahre später beim neuen Tarifabschluss kam es für den Gutenberg-Bund ganz „knüppeldick“: 1906 schlossen Buchdruckerverband und die Arbeitgeberseite (Deutscher Buchdrucker Verein) einen Organisationsvertrag, in dem sich die Arbeitgeberseite verpflichtete, nur Mitglieder des Verbandes der deutschen Buchdrucker zu beschäftigen, während die Gewerkschaftsmitglieder nur in Druckereien der organisierten Prinzipale arbeiten sollten. Dies war fast ein closed shop-Modell wie es angloamerikanische Gewerkschaften anstrebten.

Dies war noch nicht das „Ende der Fahnenstange“: Der Verband der deutschen Buchdrucker bot den Druckern und Setzern, die im Gutenberg-Bund Ansprüche auf diverse Unterstützungsleistungen erworben hatten, an, bei einem Übertritt diese gezahlten Leistungen anzuerkennen. Dies war der Hauptschlag gegen die unerwünschte Konkurrenz.

Dem konnte der Gutenberg-Bund in einer Extraausgabe des Verbandsorgans nur hilflos antworten: „An die Nichtverbandsgehilfen Deutschlands! Tretet alle dem Gutenberg-Bund bei, er gewährt bei geringeren Beiträgen dasselbe wie der Verband.“13

Ohne Frage: Der Verband der deutschen Buchdrucker hatte durch eine robuste, sehr kluge und machtbewusste Politik (mit der direkten Unterstützung der Arbeitgeberseite) einen Kontrahenten aus dem Feld geschlagen. Natürlich: Der Vorsitzende des Druckerverbandes Emil Döblin wusste 1896 ganz genau: Wenn wir nicht zur „bewährten“ Tarifpolitik zurückkehren, machen wir den gewerkschaftlichen Gegner groß. Döblin drohte sozusagen der eigenen innergewerkschaftlichen Opposition mit dem Gutenberg-Bund, um diesen dann erfolgreich an die Wand zu drücken.

Die nichtsozialdemokratischen Drucker mussten nun sehr schmerzlich erfahren, dass es bei der Organisation von Arbeitsbeziehungen nicht auf die Gesinnung ankommt, sondern auf Interessen. Und diese Interessen können von Gewerbe zu Gewerbe sehr unterschiedlich ausgerichtet sein. Als Anfang des 20. Jahrhunderts der christliche Tabakarbeiterverband am Niederrhein begann, Männer und Frauen zu organisieren, hoffte er zunächst auf Entgegenkommen. Dreißig Jahre später stellte der Verbandsvorsitzende Gerhard Camman ernüchternd fest: „Von Unternehmerseite wurde der Verband ebenso bekämpft, wie der freie Tabakarbeiterverband. Die eine Aussperrung jagte die andere.“14 Der christliche Verband hatte damals am Niederrhein quasi ein Organisationsmonopol und höhere Löhne drückten den Unternehmergewinn. Deshalb suchte die Arbeitgeberseite in diesem kapitalarmen Gewerbe den christlichen Verband zu vernichten.

Anders agierten die Arbeitgeber im Druckergewerbe: Viele Historiker und Historikerinnen des Druckerverbandes haben es hinreichend analysiert: Die Arbeitgeberseite und die Gehilfenorganisation hatten weitgehend identische Interessen. Die Gewerkschaft suchte die vollständige Kontrolle des Arbeitsmarktes für Facharbeiter durchzusetzen. Angesichts extrem hoher Investitionskosten hatte die Arbeitgeberseite ein Interesse an der Kartellisierung des Marktes, um sich die Schmutzkonkurrenz vom Leib zu halten. Das war das Geheimnis der Arbeitsbeziehungen und dies musste der Gutenberg-Bund erst mühsam lernen.

Was warfen sich die Gewerkschaften gegenseitig vor?

An dieser Stelle soll abstrahierend kurz eingeflochten werden, worin die unüberbrückbaren Differenzen bestanden.

Verband der deutschen Buchdrucker versus Gutenberg-Bund

  • Der Gutenberg-Bund spaltet und schwächt die organisierten Buchdrucker und Schriftsetzer
  • Der Gutenberg-Bund ist nicht tariftreu und seine Mitglieder arbeiten unter Tarif
  • Die Organisation wird von christlichen Kräften „ferngesteuert“

Gutenberg-Bund versus Verband der deutschen Buchdrucker

  • Der Verband ist nicht neutral, sondern vielfältig mit der Sozialdemokratie verbunden und missbraucht Mitgliedsbeiträge
  • Der Verband steht auf dem Boden des Klassenkampfes und will den Sozialismus einführen und orientiert sich nicht an Mitgliederinteressen
  • Der Verband ist internationalistisch und antichristlich eingestellt

An dieser Stelle soll nicht die ganze Palette der Vorwürfe gewertet, bewertet und kommentiert werden. Viele der Vorwürfe, – wie unschwer zu erkennen, – resultieren aus den unterschiedlichen Bindungen an politische Parteien und Weltanschauungen. Der zentrale gewerkschaftliche Streitpunkt (Spaltung und Tarifuntreue) füllte in vielen polemischen Auseinandersetzungen tausende von Druckseiten. Über gut 15 Jahre war der Vorwurf an die kleine Konkurrenzorganisation sicher berechtigt. Die Mitglieder waren weniger kämpferisch eingestellt, eher bereit, auf Treu und Glauben der Arbeitgeberseite Vorschuss zu geben und eher bereit, unter „ortsüblichen“ Bedingungen zu arbeiten, wie die Arbeit in nichttariftreuen Druckereien gerne umschrieben wurde.

3. Zyklus: 1907-1917: Auf dem Weg zu den christlichen Gewerkschaften

Konnte der Gutenberg-Bund noch so häufig darauf hinweisen, dass er es war, den großen Verband der deutschen Buchdrucker auf den Weg zur Tarifgemeinschaft zurück gebracht zu haben: Der Bund war in eine deutliche Krise geraten. Mitgliederzahlen und Einfluss gingen zurück. Es mehrten sich einflussreiche Stimmen, die unmissverständlich forderten, die selbst gewählte Isolation aufzugeben und Kurs auf eine „richtige“ Gewerkschaft zu nehmen.

Bereits auf dem Verbandstag 1901 hatte der Bund den sog. „Neutralitätsparagraphen“ (gegen den Widerstand vieler „Gründungsväter“) aus dem Statut herausgenommen und er wies nachdrücklich darauf hin, dass er auf Tariftreue insistiere und im Konfliktfalle Maßregelungs-Unterstützung bezahle.

Im Verbandsorgan wurde immer häufiger angeregt, der christlichen Gewerkschaftsbewegung beizutreten. Die Ortsvereine Würzburg und München hatten sich bereits eigenmächtig dem christlichen Gewerkschaftskartell angeschlossen. Bei einer Abstimmung im Juli 1906 votierte eine übergroße Mehrheit der Ortsvereine für den Anschluss an den Gesamtverband der christlichen Gewerkschaften Deutschlands, der dann am 27. Oktober 1906 vollzogen wurde.

Die katholische Arbeiterbewegung, die sich Ende der neunziger Jahre vom katholischen Klerus emanzipierte, war der Motor einer eigenen Gewerkschaftsgründung. Die neue soziale Bewegung war eingebettet „in ein klassenübergreifendes, konfessionell orientiertes Milieu mit eigenen Wertvorstellungen“.15 Christliche Gewerkschaftstheoretiker bejahten das Streikrecht als letztes Mittel der Auseinandersetzung, lehnten allerdings jedwede Transformation in eine sozialistische Gesellschaftsordnung rigoros ab.

Im Durchschnitt erreichten „die Christen“ ca. 12 % der Organisationsstärke der sozialdemokratischen/sozialistischen Gewerkschaften. Allerdings überflügelten in Rheinland und Westfalen „die Christen“ in manchen Branchen „die Freien“. Mein Kollege Michael Schneider hat in seiner umfänglichen Habilitationsschrift „Die christlichen Gewerkschaften 1894-1933“ und in vielen begleitenden Aufsätzen darauf hingewiesen, dass es den christlichen Gewerkschaften gelang, einen wesentlichen Teil der religiös-christlich geprägten Arbeiterschaft mit dem Gewerkschaftsgedanken zu versöhnen und davor gewarnt, sie als Organisation der „Ewig-Gestrigen“ abzutun. 16

Als indirekter Geburtshelfer der christlichen Arbeiterbewegung – so Michael Schneider – wirkte die Sozialdemokratie, die mit ihrer antiklerikalen Haltung („Christentum und Sozialismus stehen sich gegenüber wie Feuer und Wasser“) gläubige Arbeiter am Beitritt zur SPD und zur freien Gewerkschaftsbewegung hinderte.

Auf der anderen Seite bedeutete eine „zweite Gewerkschaft“ natürlich eine Schwächung der Durchsetzungsfähigkeit im Konfliktfalle. Politisch deckten die christlichen Gewerkschaften das politische Spektrum rechts von der Sozialdemokratie ab. Die meisten Mitglieder hielten zur katholischen Zentrumspartei. Der Gesamtverband der christlichen Gewerkschaften Deutschlands selbst hatte lange mit dem Gedanken gespielt, einen eigenen christlichen Buchdruckerverband ins Leben zu rufen, um die nichtorganisierten Drucker im rheinisch-westfälischen Industriegebiet zu erfassen. Mit dem Anschluss des Gutenberg-Bundes wurden diese Pläne Makulatur; stattdessen nutzten die organisatorisch sehr erfahrenen christlichen Gewerkschafter die Möglichkeit, die Organisation und Wirkungsmächtigkeit des Gutenberg-Bundes zu professionalisieren. Der Gutenberg-Bund war die dritte kleine Gewerkschaft mit protestantischem Background, die dem sonst eher katholischen Gesamtverband beitrat. (In Berlin blieb der Anschluss an die katholisch dominierte Gewerkschaftsbewegung nicht folgenlos, zahlreiche Gründungsmitglieder – wie der langjährige Redakteur Dahl – traten wieder zum Verband der deutschen Buchdrucker über.)

Der Generalsekretär des Gesamtverbandes, der gelernte Buchbinder Adam Stegerwald, machte schnell Nägel mit Köpfen: Er setzte die Anstellung eines hauptamtlichen Redakteurs am Gewerkschaftsblatt Typograph sowie eines weiteren hauptamtlichen Sekretärs mit Sitz in Köln durch. (Der Gutenberg-Bund verfügte damit 1907/1908 über 5 hauptamtliche Kräfte.)

Die hauptamtliche Agitation vom Rheinland aus blieb nicht folgenlos: Es gelang aus dem katholischen Milieu heraus, Mitglieder zu rekrutieren, die sich bislang dem Verband der deutschen Buchdrucker verschlossen hatten. Zum Vorzeigeortsverein entwickelte sich Paderborn mit seinen katholischen Druckereien und dem Verlag Ferdinand Schöningh, der mit seiner katholisch-schöngeistigen Literatur in Deutschland Erfolge feierte. Vor dem 1. Weltkrieg rekrutierte der Gutenberg-Bund in Paderborn ca. 300 Drucker und Schriftsetzer. Diese Tradition wirkte in der Paderborner IG Druck und Papier bis in die fünfziger Jahre nach. Sein 50. Jubiläumsfest 1955 feierte der Ortsverein sehr symbolträchtig im Paderborner Kolpinghaus.17

Analysiert man die Gewerkschaftstage in der Weimarer Republik, so lässt sich feststellen, dass die Mehrheit der Delegierten aus dem rheinisch-westfälischen Industriegebiet kam. Das Schwergewicht der christlichen Druckergewerkschaft mit ihren 176 Ortsvereinen hatte sich fast unmerklich von Ost nach West verschoben, obgleich Berlin mit seinem Verbandssitz Herz und Verstand der Organisation blieb. Der ehedem protestantische Verband hatte sich zu einem „gemischten Verband“ mit katholischer Dominanz entwickelt. Spätestens mit dem Anschluss an die christliche Gewerkschaftsbewegung hat der Gutenberg-Bund sich zu einer „richtigen“ Gewerkschaft entwickelt.

3. Zyklus: 1917-1933

Der “3. historische Zyklus“, der gleichzeitig ein völlig neues Verhältnis zwischen Gutenberg-Bund und Verband der deutschen Buchdrucker konstituierte, begann 1917. Durch die unterstützende Kriegspolitik der freien Gewerkschaften waren diese dort eingeschwenkt, wo sich die christlichen Gewerkschaften eh befanden: auf deutschem „nationalen“ Boden. Für die Unterstützung des furchtbaren Krieges bezahlten die Gewerkschaften einen hohen Preis. Als „Gegenleistung“ fiel die Anerkennung als Organisationen im korporativen Gefüge des kaiserlichen Staates ab.

Seit Herbst 1917 arbeiteten die sozialistischen/sozialdemokratischen und christlichen Gewerkschaften im „Volksbund für Freiheit und Vaterland“ zusammen.18 Dem Gutenberg-Bund brachte diese Zusammenarbeit viel: Die vollständige Anerkennung als gleichberechtigtes Mitglied im Tarifausschuss und Tarifamt, nachdem bereits vor Kriegsausbruch die Absperrung des nun christlichen Verbandes gelockert worden war. Der Typograph fungierte als 2. offizielles gewerkschaftliches Sprachrohr der Tarifpartner.

Die Zusammenarbeit zwischen den bis dahin spinnefeinden Organisationen entspannte sich merklich. Die regelmäßigen Zusammenkünfte an einem „Tariftisch“ hatten fast therapeutische Wirkung. Man sprach miteinander statt übereinander. Solide Tarifarbeit galt zu Recht als herausstechendes Merkmal christlicher Gewerkschaftsarbeit und auf diesem Feld kam man sich sehr nahe. Was änderte sich noch? Im Gutenberg-Bund erblickte der Verband der deutschen Buchdrucker nicht mehr eine gegnerische, sondern nur noch eine „Nebenorganisation“.19 Als 1918 der Vorsitzende des Buchdruckerverbandes Emil Döblin verstarb, bekam der vorher so Geschmähte von der christlichen Konkurrenz einen sehr warmherzigen und einfühlsamen Nachruf gewidmet.

Identische Interessen beider Organisationen traten auf verschiedenen anderen Felder zu Tage: Im Dezember 1915 einigten sich beide Gewerkschaften problemlos in einer Erklärung zur „Organisationsfrage weiblicher Ersatzkräfte“, die eine „schnellmöglichste Beseitigung der gewährten Ausnahmen im gegebenen Zeitpunkt“ zu Folge haben sollte. Sprich: Die Entlassung aller Frauen als Druckerinnen und Schriftsetzerinnen nach dem Kriege.

Als die Setzerinnen begannen, sich im christlichen Hilfsarbeiterverband (Graphischer Zentralverband) zu organisieren, war das Geschrei sofort groß. Der Gutenberg-Bund schwenkte sofort auf die Linie des Verbandes der deutschen Buchdrucker ein. Mit der Setzerinnen-Vereinigung habe man nichts zu tun. Überspitzt kann man sagen: Männergewerkschaften mit einer sehr spezifischen berufsständischen Ideologie wollten unter sich bleiben.

Die Weimarer Republik blieb ein kapitalistischer Staat und eine Klassengesellschaft. Demokratische Strukturen und Mitwirkungsmöglichkeiten in vielen Selbstverwaltungsorganen gaben jedoch den Gewerkschaften breite Möglichkeiten der Entfaltung. In der Weimarer Republik näherten sich die kleine christliche Gewerkschaft und der große Verband der deutschen Buchdrucker deutlich an.

Ich möchte an dieser Stelle jetzt keine Historiographie des Gutenberg-Bundes des späten Kaiserreichs und der Weimarer Republik präsentieren, sondern vielmehr auf ein paar strukturelle Besonderheiten aufmerksam machen.

Tarifpolitik

Von 1917 bis 1933 gibt es eine Fülle tarifpolitischer Dokumente, die von freien und christlichen Gewerkschaften im graphischen Gewerbe gleichermaßen unterzeichnet wurden. In tausenden gewerkschaftlichen Arbeitsstunden kam es zu einer Annäherung der großen und der kleinen Gewerkschaft. Der Gutenberg-Bund war an allen tariflichen Vertragswerken des Gewerbes beteiligt (Mantel-, Lohntarif, Lehrlingsordnung). Auch in den lokalen „Tarifschiedgerichten“ arbeiteten die ehedem verfeindeten Gewerkschaften jetzt eng zusammen.

Unterstützungspolitik

Der christliche Gutenberg-Bund prägte fast identische Strukturen verbandsinterner Unterstützungspolitik wie die freigewerkschaftliche Konkurrenz aus:

Reiseunterstützung Arbeitslosenunterstützung Streikunterstützung Krankenunterstützung Sterbegeld-Unterstützung Invalidenunterstützung Umzugs-Unterstützung Unterstützung zur Ausbildung an Spezialmaschinen Rechtsschutz Fortbildung

Pathetisch könnte man jetzt analysieren: Der Gutenberg-Bund war „Fleisch vom Fleisch“ des großen Verbandes und er suchte ihn fast 1 : 1 zu kopieren.

Organisationsstruktur

Obgleich deutlich kleiner, hatte der Gutenberg-Bund (zumindest in Berlin) identische Organisationsstrukturen ausgeprägt, um das „Ausfransen“ im Vertretungsbereich in Randbereichen zu verhindern.

Handsetzer Maschinensetzer Akzidenzdrucker Rotationsdrucker Korrektoren Lehrlinge

Festtagskultur

Die beiden konkurrierenden Druckergewerkschaften (sieht man von der Maifeierbewegung ab) pflegten die gleichen Feste und auch die Festkultur war vollständig ähnlich.

Johannisfeste Mystische Gutenberg-Verehrung, Eigene Drucker-Gesangsvereine

Sieht man sich alle Dokumente genau an, so kann man im gewerkschaftlichen „Hardcore-Bereich“, nämlich der Tarifarbeit, in der Weimarer Republik nur minimale Unterschiede entdecken. Letztlich gab es in der Weimarer Republik keine „gewerkschaftlichen Gründe“ gegen eine Vereinigung. Die Ursachen der Dissonanzen lagen im Primat der Politik und den mittransportierten Ideologien. An Vereinigungsangeboten seitens der freigewerkschaftlichen Drucker fehlte es nicht. Die Antworten sprechen für sich: „Nur die Gemeinschaftsidee des Christentums, die in dem Gebot zusammengefasst wird ‚Liebe deinen Nächsten wie dich selbst’, kann eine Gesellschaftsgestaltung möglich machen, deren Zeichen wahre Gerechtigkeit ist. Mit dem Christentum unvereinbar ist der von den freien Gewerkschaften gepredigte Klassenkampf.“20

Jüngere Sozialhistoriker und Sozialhistorikerinnen sprechen heute oft von „Pfadabhängigkeit“, d.h., dass bei einer bestimmten erreichten stabilen Phase des Weges, Kursänderungen nur schwer möglich sind. Dazu bedarf es krisenhafter Zuspitzungen. Ich denke, dieses Erklärungsmodell trifft gut auf die christlichen Gewerkschaften und auch den Gutenberg-Bund zu. Die beiden Druckergewerkschaften bewegten sich aufeinander zu, waren aber zu einer Vereinigung noch nicht fähig.

Wie sich diese Annäherung graduell vollzog, ohne dass diese den Protagonisten selbst bewusst wurde, möchte ich exemplarisch am Beispiel des Internationalismus zeigen. Einer der herausstechenden Hauptunterschiede beider Gewerkschaftsrichtungen kann man auf das Gegensatzpaar „nationale Orientierung“ versus „internationale Orientierung“ reduzieren. Die christlichen Gewerkschaften warfen der freigewerkschaftlichen Konkurrenz vor, keine nationale Realpolitik zu betreiben. Die christlichen Gewerkschaften lehnten deshalb den 1. Mai als internationalen Kampftag strikt ab. Stattdessen wurde zu Ostern die Gewerkschaftspresse reich ausgeschmückt.

Trotz aller Vorbehalte: Im August 1908 trafen sich in Zürich christliche Gewerkschaftskollegen auf einer internationalen Konferenz und gründeten unter Mitwirkung des Vorsitzenden des Gutenberg-Bundes, Carl Illig, einen internationalen Dachverband. Hochinteressant ist die entsprechende Begründung, die den christlichen Druckern als Erklärung mitgeliefert wurde: „Deutschland ist in den letzten Jahrzehnten der Zufluchtsort Hunderttausender arbeitssuchender ausländischer Arbeiter geworden. Die deutschen Arbeiter sind deshalb ganz erheblich daran interessiert, dass die ausländischen Kollegen hier in Deutschland nicht zu Lohndrückern und zu Streikbrechern werden, sondern sich der gewerkschaftlichen Organisation anschließen. Dies kann am erfolgreichsten geschehen, wenn die Auswanderer schon in ihrem Heimatland auf die Organisationspflicht aufmerksam gemacht werden.“21

1921 tagte der 1. Internationale Kongress der christlichen Gewerkschaften in der graphischen Industrie und wählte den Vorsitzenden des Gutenberg-Bundes Paul Thränert zum 1. Vorsitzenden. Als 2 Jahre später die Inflation das Vermögen der Gewerkschaften vernichtete, mussten viele große freigewerkschaftliche Verbände ihre Pressearbeit reduzieren, oft sogar einstellen. Nicht so der christliche Buchdrucker-Verband: Der Typograph überlebte durch großzügige finanzielle Unterstützung der christlichen Brudergewerkschaften aus den Niederlanden, Belgien und der Schweiz. Anderen christlichen Gewerkschaften wurde ähnlich großzügig geholfen.

Nun kann man nicht gut – wie ein paar Jahre vorher noch geschehen – die Annexion belgischer Gebiete fordern, um fünf Jahre später solidarische finanzielle Unterstützung aus den Nachbarländern anzunehmen, ohne dass dies „Folgen“ zeitigt. Und es ist gewiss kein Zufall, dass der Typograph 1925 den Bericht über die Fachtagung der „Graphischen Fachinternationale“ mit der Balkenüberschrift „Solidarität“ aufmachte. Obgleich nicht programmatisch nicht dem “Arbeiterinternationalismus“ verpflichtet, verhielt sich der Gutenberg-Bund im „richtigen“ Gewerkschaftsleben wie eine internationalistische Organisation.

Ideelle Träger der Einheitsgewerkschaft

Um die These von den Pfaden zu stützen, die „eigentlich“ nicht mehr nebeneinander herliefen, sondern sich schon zur Weimarer Zeit annäherten, möchte ich wiederum zur biographischen Metzhode greifen und die beiden letzten Redakteure des Typograph, Verbandsorgan des Gutenberg-Bundes, vorstellen. Redakteure waren die Intellektuellen in der Gewerkschaftsbewegung und in ihrer „Geschichtswirksamkeit“ oft höher einzuschätzen als die Gewerkschaftsvorsitzenden selbst.

Einmal handelt es sich um Joseph Treffert, der von 1911 bis 1919 das Verbandsorgan leitete, und zum anderen um Eduard Bernoth, der bis zum Ende der Weimarer Republik das Gesicht des Typograph prägte. Treffert wurde als jüngstes von zehn Kindern als Sohn eines Fleischers 1883 in Bensheim an der Bergstraße geboren. (Eine der katholischen „Ecken“ meiner südhessischen Heimat.) Seine Erziehung war streng katholisch. In seiner Heimatstadt erlernte er das Buchdruckerhandwerk und ging anschließend auf Wanderschaft, die ihn bis nach Prag führte. Am Ende seiner Wanderschaft landete Treffert im rheinisch-westfälischen Industriegebiet und tauchte dort tief in das politische Milieu des Katholizismus ein. Zutreffend hat ihn Jahrzehnte später ein (durchaus kritischer) Journalist mit den Worten „aufrechter Demokrat“, „Kämpfer für den Katholizismus“ und „Partisan der Zentrumspartei“ beschrieben.22

Treffert absolvierte einen Kurs beim Volksverein für das katholische Deutschland und stieg zum stellvertretenden Redakteur der katholischen „Westdeutschen Arbeiterzeitung“ auf. In einem autobiographischen Text beschreibt er, wie er 1905 wegen massiver Kritik am religionsfeindlichen Kurs des Buchbinderverbandes aus dem Verband der deutschen Buchdrucker ausgeschlossen wurde und beim Gutenberg-Bund seine neue Heimat fand.23 Als Redakteur trimmte er den Typograph auf absolute „Tariftreue“, mit seinem Vorsitzenden saß er im nationalen Tarifamt. Allerdings redigierte er sein Blatt fast wie ein christliches „Kampfblatt“.

Nach dem 1. Weltkrieg reüssierte er als rechte Hand des christlichen Gewerkschaftsführers Stegerwald in genossenschaftlichen Unternehmungen der christlichen Gewerkschaften (vor allem im genossenschaftlichen Wohnungsbau). Einige Zeit wirkte der Südhesse als Zivil-Kommissar zur Untersuchung des Kapp-Putsches im Reichswehrministerium mit. Als Mitglied der Zentrumspartei war er Stadtverordneter und Stadtrat in Neukölln und Reinickendorf. Im Februar 1933 überfiel ihn die SA. Die Historiker und Historikerinnen der Ausstellung „Vor die Tür gesetzt. Im Nationalsozialismus verfolgte Berliner Stadtverordnete und Magistratsmitglieder 1933-1945“ haben ihm einen gebührenden Platz eingeräumt. 1935 kehrte er in seine südhessische Heimat zurück und wurde 1946 einstimmig zum Bürgermeister gewählt. Treffert verkörperte den klassischen Repräsentanten des linken CDU-Flügels, der dafür verantwortlich zeichnete, dass die Hessische Verfassung (unterstützt von KPD bis CDU) sich heute noch wie eine Blaupause gewerkschaftlicher Forderungen liest.

Beim 2. Kollegen, den ich vorstellen möchte, handelt es sich um Eduard Bernoth.24 Er folgte Joseph Treffert 1919 im Amt als „Chefredakteur“ nach. Bernoth wurde 1892 in Hochdünen in Ostpreußen geboren. Er besuchte dort eine katholische Privatschule. Seinen Vater, der als Landarbeiter sich verdingte, verlor er mit sechs Jahren. Die Mutter verzog anschließend mit ihren vielen Kindern zu ihrem Bruder ins Ruhrgebiet.

Als Vierzehnjähriger begann er als ungelernter Hilfsarbeiter in der „Buerschen Zeitung“, einem Zentrumsblatt, zu arbeiten. Hier entdeckte der Vorsitzende der christlichen Bergarbeitergewerkschaft, August Brust, sein schriftstellerisches Talent und beschaffte ihm ein Stipendium, um Schriftsetzer zu lernen. Nach Abschluss der Lehre arbeitete der junge Ostpreuße als Maschinensetzer beim „Westfälischen Volksblatt“ in Paderborn und wurde dort Mitglied des Gutenberg-Bundes und der Zentrumspartei. Nach vierjährigem Kriegseinsatz bewarb es sich 1919 erfolgreich um die vakante Redakteursstelle am Typograph in Berlin. Als Redakteur widmete er sich intensiv seinem Metier Tarifpolitik und Jugendarbeit.

Den Typograph redigierte er streng gewerkschaftlich. Allerdings repräsentierte er auch den beinharten Zentrumschristen, der stets zu begründen wusste, warum Christen und Sozialisten es nie gewerkschaftlich „zusammen können“. („Die christlichen Gewerkschaften sind also nicht aus kleinlicher Zersplitterung gebildet, sondern deswegen, weil die freien Gewerkschaften von allem Anfang an antichristlich und sozialdemokratisch eingestellt waren.“) Die Nazis verfolgten Bernoth politisch. Nach dem Krieg gehörte er zu den Mitbegründern der Berliner CDU. Gemeinsam mit Karl Richter wurde er 1948 in den ersten provisorischen Vorstand der Industriegewerkschaft Graphisches Gewerbe gewählt, die den Kurs des FDGB ablehnten.

Als Vorstandsmitglied zeichnete der Christdemokrat für die Redaktion der „Graphischen Nachrichten“ verantwortlich, dem späteren Mitteilungsblatt der Industriegewerkschaft Druck und Papier, Gau Berlin im DGB. Und ich denke es ist kein Zufall, dass die Graphischen Nachrichten nach einem christlichen Gewerkschaftsblatt vor 1933 benannt wurden, das Bernoth bis 1933 (im Nebenamt) leitete. Was gilt es noch herauszustreichen? Die Berliner Delegierten der IG Druck und Papier entsandten Bernoth zu allen zentralen Kongressen auf Landes- und Bundesebene (darunter den Gründungskongress der IG Druck und Papier. Er vertrat darüber hinaus die Berliner IG Druck und Papier im Vorstand des Berliner DGB. Willy Brandt berief den CDU-Abgeordneten von 1957 bis 1959 zum Senator für Arbeit und Soziales. Als Gewerkschafter bekleidete der Christdemokrat damit die „Königsposition“ auf der administrativen Ebene schlechthin. In der Marienfelder Allee erinnert heute eine Seniorenfreizeitstätte an den 1972 verstorbenen Stadtältesten (Ehrung 1963 verliehen).

Die Biographien Trefferts und Bernoths, die sich vor 1933 so heftig gegen die Einheitsgewerkschaft sträubten, zeigen sehr plastisch: Der Weg zur Einheitsgewerkschaft war bereits in der Weimarer Republik angelegt. Es bedurfte der schrecklichen Erfahrungen der Nazidiktatur, um die entsprechenden „Lehren aus der Geschichte“ zu ziehen.

Mitgliederzahlen

Eine Frage blieb bislang ausgespart. Wie „groߓ war der Gutenberg-Bund eigentlich? Wie verhielten sich seine Mitgliederzahlen zum Verband der deutschen Buchdrucker? Einige ausgewählte Mitgliederzahlen geben Aufschluss.

JahrGBVddB
18941.24018.563
19003.15229.587
19133.44068.915
19304.20090.389

Die Zahlen belegen es sehr deutlich: Nur in seiner Gründungsphase war der Gutenberg-Bund eine Gefahr für den freigewerkschaftlichen Verband. Als 1896 der Verband der deutschen Buchdrucker zum „Neutralitätskurs“ und zum System des Flächentarifvertrages zurückkehrte, den er als deutsche freigewerkschaftliche Organisation exklusiv pflegte, brauchte er keine abgespaltene Gewerkschaft mehr fürchten. Der Gutenberg-Bund – so meine These – hätte keine „Überlebenschance gehabt. Nur die Anbindung an die christlichen Gewerkschaften, der Wechsel des Milieus, der Rückhalt bei einer großen Gewerkschaftsorganisation garantierte der kleinen Facharbeitergewerkschaft die Sonderexistenz.

1930 warb der Verband der deutschen Buchdrucker damit, dass er 93% der Berufsgenossen repräsentiere. Für den Gutenberg-Bund blieben somit keine 5 % der Gesamtrepräsentanz mehr „übrig“.

Karl Michael Scheriau hat es auf den Begriff gebracht: „Es sollte sich im weiteren Verlauf der Geschichte herausstellen, dass diese Neutralität gegenüber vor allem parteipolitischen Richtungen dem Buchdruckerverband die Erlangung eines in der deutschen Arbeiterbewegung fast einzigartigen Organisationsgrades von zuletzt über 90% ermöglichte.“25

Wir wissen es aus vielen Zeugnissen des Gutenberg-Bundes: Katholische oder deutschnationale Drucker im Verband (und die gab es) beteiligten sich nicht sehr aktiv am gewerkschaftlichen Gruppenleben. Die Verbandsleistungen als eine Art „Schutzhülle“ waren für diese nichtsozialistischen/nichtsozialdemokratischen Mitglieder indes ausschlaggebend, der Buchdruckergewerkschaft treu zu bleiben. Bei einem weniger moderaten Kurs wäre dieses organisatorische Traumergebnis sicher nicht zu halten gewesen. Ob die „große Zahl“ das Nonplusultra und wichtiger als „Prinzipienklarheit“ war, das zählt sicher zu den strittigen historischen Fragen, über die man heute noch kontrovers diskutieren kann.

Warum ist es sinnvoll, sich mit einer kleinen christlichen Gewerkschaftsgruppe zu beschäftigen?

Die Gewerkschaften befinden sich zurzeit in der Defensive; in vielerlei Hinsicht. Ihre Mitgliederzahlen und ihr Image sind über Jahrzehnte geschrumpft. Leider. Ich denke, es gilt auf vielerlei Ebenen Gewerkschaften wieder „nach vorne“ zu bringen. Das gilt auch für die historische Forschung. Und das gilt auch für die historische Arbeit in den Gewerkschaften selbst.

Zu den größten und wichtigsten Errungenschaften im westlichen Nachkriegsdeutschland zählt die Gründung von Einheitsgewerkschaften, die für alle Arbeitnehmer ohne Rücksicht auf deren politische oder weltanschauliche Überzeugung Heimat sein kann.

Wir wissen es alle: Tolerante Berücksichtigung aller relevanten weltanschaulich-politischen Strömungen fällt Gewerkschaftsaktivisten oft schwer. Gleichwohl hat die verwirklichte Idee der Einheitsgewerkschaft den Gewerkschaften in der Bundesrepublik erst ihre Stärke verliehen. Natürlich: Kein Tarifkampf wird gewonnen, nur weil eine gute historische Studie vorliegt. Und nichts wäre fataler, die Wurzeln der Einheitsgewerkschaft historisch zu verleugnen, auch wenn wir manche Richtungen nicht besonders sympathisch finden.

Aber: Historische Analysen sind die Obertöne, und wenn diese fehlen, wird das gesamte Konzert unstimmig. Wir erleben zurzeit einen großen Diskurs über Geschichtspolitik. Der Gewerkschaftshistoriker Klaus Schönhoven, der als pensionierter Hochschullehrer die Fahne der Gewerkschaftsforschung hochhält, hat es sehr eindrücklich formuliert: „Auf dem Feld der Geschichtspolitik ringen in demokratischen Gesellschaften bekanntlich viele Akteure aus unterschiedlichen Berufsgruppen. Geschichtspolitische Interventionen von gesellschaftlichen Gruppen stellen die Vergangenheit in den Dienst von bestimmten Interessen, befrachten ihre Deutung mit konkreten Absichten und wollen offensichtlich Wirkung entfalten.26

Die Gewerkschaften berauben sich ein Stück ihrer Legitimität und ein Stück ihrer moralischen Durchsetzungsfähigkeit, wenn sie Gewerkschaftsströmungen aus dem protestantischen und katholischen Milieu, die nicht zum Mainstream gehörten, nicht berücksichtigt und nicht vor dem Vergessen bewahrt.27

Die Gründungmitglieder der Vereinigten Dienstleistungsgewerkschaft ver.di sind auf diesem Feld nicht immer mit gutem Beispiel voran gegangen. Udo Achten macht in seiner HBV-Geschichte „Mitten im Leben“ einen großen Bogen um den liberalen Deutschen Bankbeamten-Verein28, aus dem nach 1945 viele tüchtige ÖTV-Funktionäre stammten (beispielsweise Heinrich Jacobi).

Walter Nachtmann räumt in seiner ÖTV-Geschichte den christlichen Gewerkschaften 8 Seiten ein.29 Leider macht auch die so verdienstvolle Studie „Aus Gestern und Heute wird Morgen“, die anlässlich des 125. Geburtstages der IG Medien publiziert wurde, keine Ausnahme. Karl Richter wusste in seiner Historischen Darstellung der Geschichte der IG Druck und Papier, Gau Berlin30 noch, dass nach 1945 zwei weitere christliche Gewerkschaften zur großen Gewerkschaftsfamilie dazu stießen. Die große Geburtstagsfestschrift, deren Verfasser und Verfasserinnen ich ganz außerordentlich schätze, lassen den Gutenberg-Bund und den Graphischen Zentralverband völlig unberücksichtigt. Ich glaube: Wir vergeben uns etwas, wenn wir so mit der eigenen Geschichte und ihren unterschiedlichen Wurzeln umgehen.

Ich möchte diese knappen Bemerkungen mit einer anderen Sicht der Dinge verknüpfen: Der historischen Arbeit in den Gewerkschaften selbst. Geschichte ist zurzeit nicht „out“. Das Gegenteil ist der Fall. Der langjährige Leiter der Historischen Kommission der SPD, Bernd Faulenbach, hat es gut formuliert: „Die Politisierung von Erinnerung und Geschichte erfolgt nach wie vor schubweise unter wesentlicher medialer Mitwirkung.“31 Man denke hier nur an die historischen Doku-Soaps im Fernsehen. Die Gedenkstätten zur Erinnerung an bedeutende historische Ereignisse haben sich in den letzten Jahren etwa verzehnfacht. Waren die Gedenkstätten noch in den 1980er Jahren vielfach Projekte, die sich unter Mithilfe von Gewerkschaftern und Gewerkschafterinnen als oppositionell und alternativ verstanden, so hat sich dieser Trend nach 1989 deutlich verändert.

Lange Jahre bezogen Gewerkschaften im Westen Deutschlands als „Opfer“ (um diesen gängigen Ausdruck moderner Historiographie zu benutzen) der nationalsozialistischen Herrschaft ihre Legitimation aus der Tatsache, dass sie als Demokraten auf der „richtigen Seite“ gestanden hatten und den Wiederaufbau der Bundesrepublik erst in dieser Form möglich gemacht hatten. Viele universitäre Lehrer stützten diese Position. Diese fortschrittlichen Hochschullehrer gibt es an deutschen Universitäten kaum mehr. Vor einigen Jahren stellte die Hans-Böckler-Stiftung die Unterstützung historischer Arbeiten fast vollständig ein. Die Renaissance der Geschichtsarbeit in der HBS in enger Kooperation mit der Friedrich-Ebert-Stiftung läuft nächstes Jahr definitiv aus.

Wenn die Gewerkschaften selbst nichts dazu tun, um historische Projekte zu unterstützen, wird der gewerkschaftliche Legitimationsverlust weiter zunehmen. Und wenn bei dieser Geschichtsschreibung der Wurzeln der Einheitsgewerkschaft und ihrer handelnden Personen nicht gedacht wird (auch wenn dieses Gedenken manchmal etwas schwer fällt), kann der ganze Baum leicht ins Wanken geraten.

Rüdiger Zimmermann, April 2010