Kultur-Biografie

Die Kultur-Biografie des Karl Richter
GERTA STECHER

Eine Gelegenheit, auf den besonderen Bildungswillen des Buchdruckerstandes zu verweisen, ließ Karl selten vorübergehen. Natürlich meinte er allen voran sich selber als Vertreter dieser Gilde, und das Bildungs“fach“, das er meinte, war Kunst und war Kultur. Er hatte kein Abitur abgelegt und kein Studium absolviert. Wenn er auf seine Entwicklung zurückschaute, dann pflegte er kokett im Kurzreim festzustellen: „… und keine Spur von Abitur.“ Was die geistigen und musischen Fächer betrifft, so hat er diesen Mangel durch die stetige Beschäftigung mit den kulturellen Phänomenen seiner Zeit wettgemacht.

Im Alter von 96 Jahren beantwortete er anlässlich der Feierlichkeiten zu seiner 80-jährigen Mitgliedschaft in der Gewerkschaft die Frage, warum er nicht ohne Kunst und Kultur leben konnte, dass er sie als Ausgleich zu den beruflichen Anforderungen brauchte. Es war nicht der Kunstgenuss als solcher, es war nicht der Wunsch, künstlerische Bedürfnisse zu befriedigen, sondern das kreative Entspannen nach der Arbeit, um diese dann um so frischer wieder aufnehmen zu können. Dass er dabei eigene künstlerische und kulturelle Fähigkeiten entwickelte, nicht nur konsumtiv, sondern auch produktiv, steht außer Frage und wird im folgenden näher beschrieben werden.

Insofern entspricht Karl Richter ganz dem Bild, das sich vom Buchdrucker als besonders gebildeten Arbeiter überliefert hat, und das er selber am eigenen Beispiel überliefert wissen wollte. Alle Rückblicke auf seine Jugendzeit beginnen mit der Feststellung: „Buchdrucker, das waren die Aristokraten der Landstraße“, um dann ausführlich auf die Walz sprechen zu kommen. Sein ganzer Lebensstil, sein Wirken in der Öffentlichkeit, sein Umgang mit anderen Menschen war von einer „aristokratischen“ Form geprägt, sie entbehrte in nichts eines kulturell hohen Niveaus.

Dass sich Karl zu dieser Persönlichkeit entwickeln konnte, verdankte er drei Umständen: erstens der eigenen Wissbegierde und Entdeckerlust, zweitens dem musischen Vorbild der Mutter und ihrer Brüder, und drittens und ganz entscheidend dem Bildungsstreben der Arbeiterklasse Anfang des letzten Jahrhunderts.

Karl erinnerte sich seiner Mutter als einer Frau, die oft sang. „Sie konnte gut singen.“ Auch er sang gut. Als Schüler war er Mitglied des Chores, der sich aus den besten Sängern aller Schulen des Bezirkes Prenzlauer Berg seiner Heimatstadt zusammensetzte. „Ich sang immer eine Oktave höher als die anderen.“ Der Schülerchor trat während des ersten Weltkrieges in Lazaretten auf. Das Kind Karl sah das Elend, und es sah die labende Wirkung der Lieder auf die Kranken. Eine Erfahrung, die sein Verständnis von Kunst prägte. „Kunst ist gut.“

Die Brüder der Mutter, seine Onkel, beherrschten alle ein Blasinstrument. „Das schien mir normal.“ Und ganz normal fand er, als Kind das Spiel auf der Mundharmonika zu erlernen. Gerade dieses Instrument zu spielen „war damals gang und gäbe.“ Drei Monate vor seinem Tod holte er vier Mundharmonikas aus seinem Schrank, wo sie „luftlos“ lagerten. „Sie brauchen Luft“, erklärte er, blies ein paar mal dies Lebenselixier in ihren Körper und ließ sie dann zum Selbstatmen in ihren geöffneten Schachteln liegen. Es bedurfte nur weniger Bitten, dann versuchte er, sich einiger Lieder zu erinnern. Er hatte Jahre, wahrscheinlich Jahrzehnte nicht mehr auf ihnen gespielt. Es machte ihm Spaß zu hören, wie es ihm gelang, die Töne zu sortieren. Dann war er außer Atem und legte die Instrumente weg. „Die Melodien würden mir alle wieder einfallen.“ Aber die Lunge streikte.

Seine Mutter las viel. „Was alles, weiß ich nicht.“ Dass Heimatgedichte darunter waren, wusste er aber genau, denn sie las sie vor. “Das hat mir viel Halt gegeben.” Sie war seine Bezugsperson. Wenn er von ihr sprach, geschah es nicht selten, dass ihm die Stimme versagte. Es waren Lieder und besonders Gedichte, die sie emotional aneinander banden. Die besondere Wertschätzung der Lyrik unter allen anderen Kunstäußerungen wird seinen Ursprung in dieser Lebensphase gehabt haben.

Zeitlebens sammelte er Lyrikbände, sie machten einen bedeutenden Teil seiner Bibliothek aus. Aber er trug nicht nur die Bände von Goethe-, Schiller-, Heine-, Mörike-, Tucholsky-, Ringelnatz- und Buschgedichten u.v.a. zusammen oder auch die von sogenannten Arbeiterdichtern wie Gerrit Engelke sowie die seines Freundes Walter G. Oschilewski, nein, er schnitt über viele Jahrzehnte aus Zeitungen und Zeitschriften Verse aus, die ihm gefielen. „Ich bräuchte einen Kompass, um alle Schnipsel mit Gedichten in meiner Wohnung wiederzufinden.“ Waren es aber Zeilen der von ihm in Buchform gesammelten Dichter, dann legte er die Zettel den Gedichtbänden bei. So passierte es, dass bei der Auflösung seiner Bibliothek aus manchem unvorsichtig hervorgezogenem Buch eine kleine Zettelflut niederging. In den letzten zwei Jahrzehnten ließ das Schnipseln stark nach, weil sich die Tagespresse nicht mehr für den Abdruck von Gedichten hergibt.

Doch das Ausschneiden der ihn interessierenden Meldungen, Abbildungen oder Artikel wurde Karl zur Methode. Noch acht Tage vor seinem Tod hatte er auf diese Weise den Tagespiegel und den Stern zerlegt. Arbeiten über Schriftsteller und Künstler fesselten nun, statt abgedruckter Verse, Karls Interesse. So lag zum Beispiel dem Roman Unkenrufe von Günter Grass die ausgeschnittene Dankesrede des Autors anlässlich der Verleihung des Nobelpreises bei. Zwischen den Seiten des Romans Der Prozeß von Franz Kafka steckte das Interview mit dem Herausgeber der neuen Gesamtausgabe der Kafka-Werke. Wie bei den Lyrikern ist es auch bei den Romanautoren unmöglich, alle beim Namen zu nennen, die Karl in seinen Bücherschränken versammelt hatte, hier einige: Gorki, Gogol, Fontane, Böll, Thomas Mann, Heinrich Mann, Hauptmann, Lermontow, Tolstoi, Arno Holz, Oskar Maria Graf, Martin Walser, Knut Hamsun, Wolfgang Borchert, Zuckmayer, Jack London, Sinclair, Don Passos, Siegfried Lenz, aber auch Walter von der Vogelweide und das Nibelungenlied.

Unter den Bänden befand sich manch Bibliophiles wie die vollständige Schillerausgabe von 1862, das Gutenberg-Album von 1840 mit Hymnen auf Johannes Gutenberg in allen Sprachen, z.B. ungarisch, etrurisch, altgriechisch, ägyptisch, lateinisch, sogar in persischer und babylonischer Keilschrift oder in Hieroglyphen. Um 1925 begann er mit dieser Sammlung bibliophiler Bücher. Kostbarkeiten wie die Bibel von 1770, in der das Leben Luthers in ganzseitigen Kupferstichen dargestellt ist, dürfen nicht unerwähnt bleiben: „Das ist große Kunst.“ Hier sprach aus ihm der „klassische“ Buchdrucker, dessen Herz im selben Verhältnis höher schlägt, wie das Buch in die Geschichte der Buchdruckkunst zurückreicht.

Dem Band mit Briefen des Malers Moritz von Schwind hatte er ein knappes Dutzend Abbildungen aus dessen Werk einverleibt. Karls Interesse galt nämlich auch den bildenden Künstlern. Zeitlebens hat er die Museen der von ihm besuchten Städte besichtigt, möglichst zusammen mit Frau, Freunden und befreundeten Ehepaaren wie den Oschilewskis, und er hat sich selten Sonderausstellungen entgehen lassen. Als 86jähriger hat er 1990 die große Rembrandt-Ausstellung in Berlin wortwörtlich „durchgestanden“, nur einen Stock hatte er zur Hilfe. Und noch als 100jähriger „durchfuhr“ er 2004 im Rollstuhl die MoMa-Ausstellung in Berlins Neuer Nationalgalerie. Bildbände über Renoir, Marées, Kokoschka, Grosz, Masereel, Beckmann, Liebermann, Zille, Dürer, Rodin und zusammenfassende Darstellungen wie die über die Künstler seit 1870, die Neue Kunst nach 45, viele Berlin-Kunst-Bücher und verschiedene Abhandlungen zur Kunstgeschichte wie zwei Bände von André Malraux zur modernen Kunst gehörten zu seinem Buchbestand.

Er selber nannte die Zahl von 2000 Bänden einschließlich aller politischen und berufsbezogenen Bücher. Interessiert hatte er die Bibliothek der Seniorenresidenz besichtigt, in die er gerade eingezogen war, es war Dezember 2003, und in der er die letzten beiden Lebensjahre wohnte. Er fand sie zu dürftig und überschlug, wie viele Bände seine eigene umfasst. Sicher einige Dutzende mehr als 2000. Wenn man allein an die Bücherstapel denkt, die er noch zu Lebzeiten dem Karl-Richter-Verein übergab, es waren einige Hundert, ohne dass klaffende Lücken in den Bücherschränken entstanden waren.

Diese Übergabe beruhigte ihn, er sah seine „gedruckten Freunde“ dort nicht nur gut aufgehoben, sondern auch Interessierten zugänglich. Letztes war ihm ernorm wichtig, die Bücher sollten in die richtigen Hände kommen. Seit seinem hundertsten Lebensjahr trennte er sich immer öfter von Exemplaren. Schweren und leichten Herzens verschenkte er sie gezielt an Verwandte, Freunde und Bekannte. „Der/Die weiß sie zu schätzen.“ Dabei ging er feinsinnig vor: er überlegte, wer aus diesem Kreis sich über welches Buch freuen würde. Dann spielte er dieser Person bei deren Besuch das Exemplar in die Hände und bot dann fast nebenbei den Besitzwechsel an. Interessanterweise gingen die Bücher zur Bildenden Kunst selten diesen Weg, obwohl er genau wusste, dass es unter den Besuchern sehr wohl Liebhaber dieser Kunstgattung gab. „Ich will ja nicht vor leeren Buchschränken sitzen“, und er meinte die kommenden zehn Jahre, die er noch zu leben gedachte.

Das Interesse an der Malerei weckte die Mutter nicht. Sicher ist aber, dass er durch sie nicht nur Gedichte, sondern auch das Reimen kennen gelernt hatte. Geburtstagsbriefe, die sie dem Sohn schrieb, fasste sie in Versen ab. Es gibt einige in seinem Nachlass. „Die Lust am Dichten muss ich von ihr geerbt haben.“ Gepackt hat ihn diese Lust aber erst spät in seinem Leben. Er war längst erwachsen, ihn führten Dienstreisen aus Deutschland heraus, von wo er die heimgebliebenen Verwandten per Vers grüßte. Auch mancher Geburtstags- und Urlaubsgruß aus dieser Zeit, von denen etliche erhalten sind, ist gereimt.

1954 stellte er sich dann in großer Kollegenrunde mit einem selbstverfassten Geburtstagsgruß für Artur Petzold (erster Landesvorsitzender der IG Druck und Papier nach dem Krieg, Karl war der stellvertretende Landesvorsitzende) der Öffentlichkeit als witziger Verseschmied vor. Dass er, der seriöse, ernste und freundliche Mann, diesen Schritt wagte, gefahrlaufend, albern zu wirken, speziell in seiner Position, war wohl dem freundschaftlichen Verhältnis zu Petzold zu danken. Bis zur letzten Stunde hat sich Karl persönlichen Beziehungen gegenüber dankbar gezeigt, und gern hat er Zuneigung per Reim kundgetan. Die Reime für Petzold sind köstlich, sie sind abgedruckt, denn sie sollen als Beispiel für viele Versgrüße dem Leser der Biografie nachschlagbar sein.

Das Echo in der Kollegenschaft war groß. Es blieb nicht aus, dass man auf Gereimtes von seiner Hand wartete, manchen Kleinvers hat er dann auch verfasst. Aber erst 1997, gute 40 Jahre später, begann seine „Laufbahn“ als reimender Rentner mit einem längeren Text unter dem Titel Wunderliche und sehr inhaltsschwere Bemerkungen des Altbarden Karl Richter zu den Vorstandswahlen am Aschermittwoch, den 12. Februar 1997. Karl war fast 93 Jahre alt, und die steigende öffentliche Aufmerksamkeit, die er mit wachsendem Alter genoss, artikulierte sich unzählige Male in Fragen nach seinem Lebensweg. Dem begegnete er schließlich mit einem gereimten Lebenslauf: neunzig Jahre ververst! „Ich wurde so oft nach meinem Leben befragt, dass ich es in Verse gegossen habe“, erklärte er auf der schon erwähnten Feier zur 80-jährigen Mitgliedschaft in der Gewerkschaft. Aus dieser Reim-Vita ist zu vielen Gelegenheiten zitiert und manches auch veröffentlicht worden. Auch Karl selber bediente sich ihrer und spickte manche Rede wie die Dankesrede zu seinem 100. Geburtstag mit Auszügen aus ihr.

Die letzten 10 Lebensjahre hat er trotz mehrmaliger Aufforderungen dieser Vita nicht angefügt. Aber gereimt hat er weiterhin kräftig, nicht nur um Gefühle zu äußern, auch um sie für sich zu verarbeiten. Gesellschaftliche Fehlentwicklungen nahm er so aufs Korn wie die eher sekundär scheinende Rechtschreibreform. Für Karl war sie nicht zweitrangig, Sprache war für ihn ein Kulturgut. Das resultierte zum einen aus seinem Beruf, für jeden Buchdrucker mag das Wort, die Schrift und die Grammatik fundamental sein. Doch für ihn kam hinzu, dass er die Sprache, zumal seine Muttersprache, nicht verstümmelt sehen wollte, derer er sich in Rede und Schrift so oft bedient hatte.

Zu schreiben und zu reden verlangte es ihn immer, in Beruf, Partei- und Gewerkschaftsarbeit, und später nicht minder, zwar nicht mehr im Amt, aber im Ehrenamt, unverändert auch, als seine Stimme im hohen Alter an Festigkeit verlor. Über seine Rede- und Schreibkunst und -lust war er selber verwundert: “Ich habe nie in meinem Leben daran gedacht, eine Zeile zu schreiben oder zu reden.” Die Rechtschreibreform jedenfalls attackierte er voller Humor unter dem Titel Liebe, was sich nicht nur im Reim her-, sondern vor allem im Schriftbild darstellt: Schrift“bild“ als „Bild“text gemeint. Er ist ebenfalls zur erheiternden Lektüre der Biografie beigegeben.

A propos Schrift, genauer Handschrift: Karl benutzte wohl niemals die Schreibmaschine, er hatte es nicht nötig, denn er konnte schreiben wie gedruckt. Diese Fertigkeit zu erlernen war Teil seiner Ausbildung. Im Nachlass gibt es einige Blätter mit Schriftübungen, Pinsel und Feder. Er hat seine Schrift acht Jahrzehnte hindurch bewahrt, er hat sie gepflegt und gehegt. An Sutterlin erinnern die Buchstaben, die er einen nach dem anderen aufs Papier malte. Er tat das mit einer bewundernswerten Ausdauer, vor allem im Alter, als ihm die Hand schwer wurde. Es geschah, dass er das Geschriebene nicht weggab mit der Bemerkung, er würde es noch einmal abschreiben. Da waren Lettern verrutscht, hatten die imaginären Linien über- oder unterschritten oder standen nicht im „rechten“ Winkel zum Nachbarbuchstaben. Karl wollte nicht unbedingt die Perfektion, er wollte das Ästhetische, aber das möglichst perfekt. Auch seine gereimte Biografie ist handverfasst. Zum Inhalt die passende Form, grad wie bei einem Kunstwerk.

Oft endete er seine gereimten Arbeiten mit der Zeile: „Das sagt Euch als Verseschmied und nicht als Dichter Euer Karl Richter.“ Karl war sich bewusst, dass er „nur“ reimte und nicht dichtete. Diesen Unterschied lernte er früh kennen. Als Mitglied der Sozialistischen Arbeiterjugend, der er als Fünfzehnjähriger 1920 beitrat, gehörte er zu einer Jugendgruppe, „die kulturpolitisch interessiert war, andere Gruppen waren nur politisch orientiert“. Der jungendliche Karl Richter fühlte sich gerade in dieser Gruppe wohl, konnte er doch die musische Betätigung seiner Kinderzeit nahtlos fortsetzen. „Wir beschäftigten uns intensiv mit dem Volksliedgut“, und Karl spielte Mundharmonika, andere Klampfe und Schifferklavier. Aber natürlich wurden ebenso intensiv Arbeiter- und Kampflieder gesungen. Zu denen, die Karl ein Leben lang schätzte, gehören: Die Gedanken sind frei, Wann wir schreiten Seit an Seit, Brüder zur Sonne zur Freiheit und Wohl an, wer Recht und Wahrheit achtet. Auf den Feiern zu seinem 99. und seinem 100. Geburtstag sowie zur Jubiläumsveranstaltung anlässlich seiner achtzigjährigen Mitgliedschaft in der Gewerkschaft erklangen auf Wunsch des Jubilars diese vier Lieder. Schallplatten mit diesem Liedgut hatte Karl natürlich auch im Besitz. Um sie vor der Beschlagnahmung bei Hausdurchsuchungen während des Nationalsozialismus zu retten, wurden vorsorglich entsprechende Platten mit falschen Etiketten überklebt. Karl hatte eine Bekannte, die in der Verpackungsabteilung der schwarzen Scheiben tätig war. Sie besorgte die falschen Aufkleber. „Wenn wir die Schallplatte mit dem Titel Hie Brandenburg alle Wege auflegten, hörten wir aber das Lied der Baumwollpflücker, gesungen von Ernst Busch.“

Karl gehörte auch der Volkstanztruppe der Sozialistischen Arbeiterjugend an, die während Maiveranstaltungen der SPD auftrat, aber vor allem wurde er Mitglied der Literaturgruppe. Fraglos ist, dass Karl hier seine entscheidende kulturelle Prägung bekam: er festigte die mütterlicherseits geförderten lyrischen Interessen und entwickelte ein gesamtliterarisches Verständnis. Er lernte nämlich gründlich literarische Qualität kennen. Die Gruppe erarbeitete sich Dramen durch das Lesen mit verteilten Rollen, vorgetragen zu Sonnenwendfeiern, zu Eltern- und Jugendveranstaltungen der Arbeiterjugend. Auch Sprechchorwerke „zum größten Teil von Bruno Schönlank“ wurden einstudiert und aufgeführt. Das Auftreten vor Publikum, Reden, Artikulieren hat sich Karl in dieser Gruppe angeeignet. Sie war seine zweite Familie. Wöchentlich trafen sie sich dreimal: einmal zum Einstudieren von Volkstänzen und Volksliedern, ein andermal, um einiges über Geschichte und Wirtschaft zu erfahren, und schließlich zum Literaturabend. „Das hat die Grundlage für unser Zusammengehörigkeitsgefühl geschaffen.“

Sie waren zwischen 40 und 50 Jugendliche, Mädchen wie Jungs, “auch welche mit Weltschmerz. Wir waren auf diesem Gebiet zu Hause”. Gefühle spielten eine wichtige Rolle. In der gemeinsamen Beschäftigung mit Kunst lernte er, mit ihnen umzugehen, eigene zu artikulieren, andere zu respektieren. Den Umgang mit Menschen, im Freundes- wie im Kollegenkreis, hat er hier für sein Leben erworben. „Wann immer man dich sieht, man trifft einen fröhlichen, freundlichen, fitten Karl …“ formulierte in einem Artikel zum 95. Geburtstag einer seiner Parteigenossen. Karl war mit sich selber in diesem Punkte sehr zufrieden: „Es gab nie ein böses Wort“, schon gar nicht gegenüber Untergeordneten.

Es wurden also keine Schmöker verschlungen, wie es Karl als Kind tat. Jedenfalls bezeichnete er die Groschenhefte Einsame Menschen oder die Wildwester selber so, die er am liebsten auf der Wiese neben der Laube der Familie „lang hingerekelt“ las. Nein, es wurden Bücher von Autoren gelesen, die „später von den Nazis auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurden“. Darunter auch viele Werke, die die Büchergilde Gutenberg verlegt hatte. Mit Blick auf diese kulturmörderische Aktion betonte Karl oft: “Die Büchergilde vermittelte nicht nur Bücher bildender, sondern insbesondere freiheitlicher Natur.” In den Grafischen Nachrichten vom März 1983 erinnerte der 79jährige warnend an den Umgang der Nazis mit solchen Büchern und deren Schöpfern:„… Die SA-Männer warfen … Bücher der Büchergilde Gutenberg auf den Hof, wobei nur das Buch von Dr. Max Hodann Geschlecht und Liebe Gnade fand. … Opfer der Hitlerdiktatur wurde auch Schriftsetzerkollege Erich Knauf, der als Lektor in der Büchergilde tätig war und eine Daumier-Biografie Ça ira und das Buch Empörung und Gestaltung – Künstlerprofile von Honoré Daumier bis Käthe Kollwitz herausgegeben hatte.“

Von der Gilde hielt Karl große Stücke. Dass er den Wert ihrer Arbeit schätzen konnte, dankte er den Aktivitäten der Literaturgruppe. Er war von Anfang an ihr Mitstreiter, zeitweise ihr Vertrauensmann. Nicht nur, dass er gleich bei Gründung der Gilde 1924 beitrat, er, zwanzigjährig, die Gehilfenprüfung seit einem Jahr in der Tasche, warb auch um Mitglieder unter seinen Arbeitskollegen. „Ich bin von Kollege zu Kollege gegangen.“ Jahre später, nach dem Krieg, in seiner Funktion als zweiter Landesvorsitzender der IG Druck und Papier, entschied er, als Dank an Ehrenamtliche immer das “Große Lexikon der Büchergilde” zu überreichen. Und anlässlich des 70. Jahrestages der Büchergilde Gutenberg 1994, selbst schon 25 Jahre im Ehrenamt, verfasste er einen würdigenden Artikel, den er endete:“… die Gewerkschaftskollegen des Verbandes der Deutschen Buchdrucker (hatten) die Büchergilde Gutenberg ins Leben gerufen, … um eine Buchgemeinschaft für Werktätige zu schaffen. … An die Gewerkschaften geht heute die Aufforderung, sich im kulturellen Bereich, wo es um die Förderung der Literatur in ihren vielen Erscheinungsformen geht, stärker zu engagieren. Für die Büchergilde als Bildungseinrichtung bleibt die Verpflichtung, bei der Riesenflut von Büchern beratend in Erscheinung zu treten.“ Beratung und Information suchte Karl stets auch selber. So hörte er ab Mitte der 80er Jahre regelmäßig das Literarische Quartett. Zu den Zerwürfnissen der Kritiker Marcel Reich-Ranicki und Sigrid Löffler kommentierte er: “Mal sehen, ob er sich bei Frau Löffler entschuldigt.” Viele Erstausgaben der Büchergilde wie die unter dem Pseudonym B. Traven erschienenen Romane Das Land des Frühlings und Der Karren waren selbstverständlich Teil seiner Bibliothek. Über diesen großen Unbekannten unter den Literaten hielt Karl als 78jähriger 1982 einen Vortrag im Überseemuseum Bremen.

„Einen besonderen Schwerpunkt in unserer Literaturgruppe bildete die Arbeiterdichtung“, so formulierte es Karl in ungezählten Aufsätzen und Reden, auch als Notiz in Vorbereitung von Aufsatz und Rede ist dieser Satz mehrmals im Nachlass vorhanden. Karl hat eine Unmenge von vorbereitenden Arbeiten auf größeren und kleineren Zetteln hinterlassen, auch aufnotierte Gedanken, die nicht unbedingt in eine Arbeit einfließen sollten. Auf einem der seltenen Notizzettel, die mit Datum versehen sind, steht zum Stichwort „Arbeiterdichtung“ am 8.10.1990: „Dichter und Schriftsteller, … die aus der Tiefe des Volkes kamen und deren Werke die Spuren ihrer Herkunft zeigten. … zum Ausdruck kam das weite Weltgefühl und die tiefe soziale und wirtschaftliche Verwobenheit mit dem arbeitenden Volke.“ Seine Favoriten unter diesen Autoren waren Gerrit Engelke, Karl Bröger, Paul Zech, Heinrich Lersch, Max Barthel. Dass sich die beiden letzteren ein Jahrzehnt später von den Nationalsozialisten vereinnahmen ließen, hat Karl offensichtlich nie problematisiert. Vielleicht im stillen Kämmerlein, aber es gibt dazu keinerlei Notiz.

Die schmalen Bändchen der Arbeiterdichter waren ihm würdig genug, sie neben seine mehrbändigen Goethe- und Schillerausgaben zu placieren. „Sie haben einen Ehrenplatz in meiner Bibliothek.“ Aber nicht nur das: wann er konnte, rief er ihre Werke ins Bewusstsein der Öffentlichkeit zurück. Bei der Planung der kulturellen Umrahmung der Feierlichkeiten zu seinem 80jährigen Gewerkschaftsjubiläum und seinem 99. und 100. Geburtstag wünschte er, dass neben Gedichten der Klassiker auch Gedichte jener Autoren vorgetragen würden. Er legte selber fest, welche, so Von Mensch zu Mensch von Gerrit Engelke und Wir Werkleute all von Heinrich Lersch. Doch er legte nicht nur Wert auf die Nennung ihres Namens, sondern auch die ihres Berufes: Malergeselle und Kesselschmied.

Aus Karls Literaturgruppe, in der “dichten wie eine Krankheit war”, gingen zwei wirkliche Dichter hervor, Erich Egge und Erwin Frehe. Zeitlebens schätzte Karl all die Autoren, die es mit Hilfe der Arbeiter-Bildungsbewegung schafften, literarisches Niveau zu erringen. Er selber kannte ja den sozial „angeborenen“ Mangel an Bildung und die Bemühungen, ihn zu beheben. Welch Glück für all jene „kleinen“ und begabten Leute, die wie er in dieser Zeit lebten, und zu deren Sozialisierung die Kulturangebote der Sozialdemokraten entscheidend beitrugen.

Es war ja nicht nur die Büchergilde gegründet worden. Schon drei Jahre zuvor spielte zum ersten Mal bevorzugt für eine Arbeiterhörerschaft das Leipziger Gewandhausorchester unter Arthur Nikisch am Silvesterabend die 9. Symphonie von Beethoven, was schon ein Jahr später seine Nachahmung in anderen Städten Deutschlands fand. Unter dem Berliner Arbeiterpublikum saß der 17jährige Karl Richter. Seit diesem Jahr 1921 hörte er alljährlich zum Jahreswechsel die symphonische Botschaft Alle Menschen werden Brüder. Außerdem schlossen sich 1920 die verschiedenen Vereine der Volksbühnenbewegung zusammen, die gegen einen niedrigen, einheitlichen Beitrag, „verbunden mit einem System der Platzverlosung“, Minderbetuchten Theaterbesuche ermöglichten. Und Karl wurde 1922 selbstverständlich Mitglied. Das Theaterspiel liebte er schließlich schon als Akteur! „Damals unter der Leitung von Erwin Piscator“, schwärmte er ein gutes Dreivierteljahrhundert später von den „eindrucksvollen und bewegenden Aufführungen.“ Folgerichtig hatte er auch die Ruhrfestspiele begrüßt, ein Theaterfestival, 1947 als Verbindung von Gewerkschaft und Kunst ins Leben gerufen.

Seine emotionale Verbundenheit mit der Volksbühnenbewegung zeigte sich aktiv noch 1983, sechzig Jahre später, als er im Theater der Volksbühne einen Vortrag über Siegfried Nestriepke hielt, der zeitweise Intendant des Theaters am Kurfürstendamm und vor allem des neugebauten Theaters der westberliner Freien Volksbühne in der Schaperstraße war. Dort erinnerte er, sein eigenes Beispiel vor Augen: “…wir erkannten, welche wichtige Rolle das Theater zur Weiterentwicklung der menschlichen Gesellschaft spielt. … dass mit der Verbesserung der Lebenssituation auch die Voraussetzungen für den kulturellen Aufstieg der Arbeiterschaft geschaffen würden.“

Viele Gedichte hatte Karl im Kopf, da unterschied er sich nicht wesentlich von Mitbürgern seiner Generation. Das Auswendiglernen war einstmals Schulaufgabe, und „deshalb habe ich sie immer bei mir“, lobte er das heutzutage so verpönte Einpauken. Er hatte durch sein Kunstinteresse aber eine noch viel größere Anzahl parat. Vielen Gelegenheiten verpasste er Gedichte „aus dem Kopf“, allen voran „seinen“ Goethe: Man sollte alle Tage/ wenigstens ein kleines Lied hören/ ein gutes Gedicht lesen/ ein treffliches Gemälde sehen/ und, wenn es möglich zu machen wäre, einige vernünftige Worte sprechen. Einmal gestand er, dass kaum ein Tag vergehe, an dem er nicht diese Zeilen erinnerte. Steckt in ihnen doch nicht nur Johann Wolfgang von Goethes, sondern auch Karl Richters Lebensmaxime! Er beendete den Vers fast immer mit einer kurzen, bedeutungsschweren Pause, um dann zu kommentieren: „Das letzte ist am schwersten zu machen“. War er sich doch bewusst, manch vernünftige Rede in seinem Leben geschwungen zu haben, wenn er auch einräumte: „Ich habe zu lang gesprochen und zu lange Artikel geschrieben.“ Das Jonglieren mit Gedichten jedenfalls hat viele beeindruckt. In einem weiteren Artikel zu seinem 95. Geburtstag unter dem Titel Alter Kämpfer mit poetischer Ader heißt es: Verse streut der Herr im dunkelblauen Anzug eher unvermittelt ein. Gewissermaßen als bunte Tupfer zwischen der internationalen Solidarität, dem 1. Mai und der gewerkschaftlichen Seniorenarbeit.

„Seinen“ Goethe wollte Karl ebenfalls zu den erwähnten Feierlichkeiten rezitiert wissen und auch das Gedicht Kleines Nachtlied von Walter G. Oschilewski, einem weiteren Arbeiterdichter, einem Schriftsetzer, späterer Ressortleiter und stellvertretender Chefredakteur beim Berliner Telegraf, den Karl in der Arbeiterjugend kennengelernt hatte, und mit dem ihn eine lebenslange Freundschaft verband. Der Buchdrucker und der Schriftsetzer, schon das wird sie angezogen haben, denn unter den Jugendlichen waren ja beileibe nicht nur Vertreter des Druckgewerbes, sondern die aller möglicher Berufe. Die Tätigkeit des anderen, die der eigenen ja so nahe war und doch unterschiedlich genug, um sich fachmännisch auszutauschen, bot ein schier unerschöpfliches Reservoir an Gesprächen. Beide fasziniert von der Schwarzen Kunst, saßen sie begeistert zusammen über den ersten Exemplaren von schönen, seltenen, historischen und bibliophilen Stücken aus dem Buchdruckergewerbe, mit denen Karl seine bibliophile Büchersammlung ausbaute, die er gezielt erweiterte, und die über die Jahrzehnte ins schier Unermessliche anwuchs.

Ein besonderes kostbares Exemplar des Schriftgießer zeigte Karl noch Jahrzehnte später immer mit geschwellter Brust, es datierte aus dem Jahr 1887. „Ich habe alles gesammelt, was andere wegwerfen wollten“, auch eine große Anzahl Exemplare von Programmen und Einlasskarten der Johannis-, Stiftungs- und Vereinsfeste der Berliner Buchdrucker ab 1889. Walter trug kräftig dazu bei. „Es interessierte uns, was und wie gedruckt wurde.“

In der Nachkriegszeit begann Karl unter diesem Aspekt Briefmarken zu sammeln, seine Aufmerksamkeit galt der grafischen Darstellung und dem Druckverfahren. So unterschied sich seine Motivation zum Sammeln von der anderer Briefmarkenfreunde doch beträchtlich.

Dieses spezifische Druckinteresse blieb Karl bis zuletzt erhalten. Minutenlang konnte er ein Buch in den Händen halten, den Einband betrachten und plötzlich dem Besucher das Buch hinreichend ausrufen: “herrlich gedruckt”. Mit der flachen Hand streichelte er das Papier und empfand eine ganz elementare Freude. Selbst Werbeprospekte, den Tageszeitungen als Einlagen beigegeben, betrachtete Karl intensiv, nicht weil er sich für die beworbenen Produkte interessierte, ganz sicher sah er gar nicht, dass er die neueste Kleidermode vor Augen hatte, er studierte die Farbübergänge. „Wie klar die Farben von einander getrennt sind“, staunte er immer wieder, „haarscharf“.

Er hatte im Laufe seines Lebens die Perfektionierung auf diesem Gebiet verfolgt, sie hielt ihn in Atem. Wie wird er mit Walter diese Entwicklung goutiert haben! Aber nicht nur das, beide hatten mehr als das technische Geschehen im Blick. Auch der Disput zu Inhalt, Verbreitung und Wirkung von Gedrucktem konnte sie stundenlang fesseln. In seinen letzten Lebenswochen, Karl stellte eigentlich Materialien zwecks Übergabe an den Karl-Richter-Verein zusammen, suchte er die Jahresgabe Berlin, Weihnachten 1969, der `Buchdruckerei Hartmann und des Gebrüder Mann Verlag` hervor, eine Zusammenstellung von Kunstwerken von Piero di Cosimo bis Joan Mirò samt Essays zu Werken und Künstlern, und fragte rhetorisch: “Muss man den nicht loben, der nicht nur Unternehmer, sondern auch Kunstliebhaber ist?” Das war für Karl und sicher auch für Walter die gelungenste Übereinkunft von merkantilem und ästhetischem Interesse.

Der Fundus seiner Buchdruckergewerbe-Sammlung inspirierte den 84-jährigen im Jahre 1988 zu einer Ausstellung. Er hatte schon funf Jahre zuvor eine Ausstellung ganz anderer Art verantwortet: Von August Bebel bis Ernst Reuter – unser Kampf für Freiheit und Völkerfrieden, eine Art Zeit- und persönliche Geschichte in Bild und Text von 1920 bis 48, vorrangig politisch ausgerichtet. Er zeigte sie 1983 im Fontanehaus Reinickendorf und ein Jahr später 1984 im Rathaus Wedding. Er hatte also Erfahrung mit der künstlerischen Gestaltung einer Ausstellung. Nun reizte ihn seine Materialfülle. „Soll das Material nur bei mir schmoren, das sollen auch andere sehen.“ Er gab dieser Ausstellung den Haupttitel Von der Keilschrift zur Druckindustrie und den Untertitel Aus der persönlichen Sammlung von Karl Richter und baute die Schau historisch auf, wobei eine Fülle von Aspekten Beachtung fand: Schriftzeichen und –typen, Papierherstellung, Druckverfahren vom Handsatz bis zum Drei- und Vierfarbendruck, das Tiefdruckverfahren, Buch- und Zeitungsdruck, Buchbinderei, Reproduktionstechniken.

Dreizehn Jahre später ergänzte er die Ausstellung mit Material über den Computerdruck. Er hatte die Weiterentwicklung, obwohl schon fünfeinhalb Jahrzehnte außerhalb dieses Berufes, nicht etwa verpasst. Mit einer unglaublichen Hingabe jedenfalls stellte er gut zwei Dutzend Tafeln zusammen, die er neben dem Bildmaterial mit instruktiven handgeschriebenen oder besser hand“gedruckten“ Texten versah. Sein Fleiß war enorm. Er stellte sie 1988 im Heimatmuseum Reinickendorf und 2001 in der MedienGalerie im Haus der Buchdrucker aus, wozu er, der nun 97jährige, die ergänzende Tafel zum Computerdruck selber erarbeitete.

Walter G. Oschilewski blieb zwar auch nicht im erlernten Beruf, aber seine Weiterentwicklung wich nicht so stark wie die Karl Richters von der anfänglichen Berufsausübung ab. Darauf spielt Walters “Dem mißratenen Jünger der schwarzen Kunst” an, eine handschriftliche Widmung vom 23. 2. 54 im gerade von ihm herausgegebenen Buch Lob der schwarzen Kunst. Unter Karls Büchern zum Buchdruck wie Schwarze Kunst und Klassenkampf, Schrift und Buch, Stundenbuch für Letterfreunde befand sich noch manches Werk von Freund Walter, Karl immer per Widmung zugeeignet. Jedoch Der Buchdrucker von 1935 ist geradezu veredelt durch das Motto, also die gedruckte Zueignung: „Dem Buchdrucker Karl Richter … gewidmet”. Damals ahnte Karl wohl nicht, dass er diesen geliebten Beruf zwölf Jahre später freiwillig aufgeben würde, um sich hauptberuflich der Gewerkschaftsarbeit zu widmen.

Karls Neigung für den Freund wog doppelt schwer: es waren nicht nur die Berufe das Bindeglied zwischen beiden Männern. Es war ein Verhältnis, deren Basis zweifelsfrei „Kunst“ hieß. Aber nicht nur die Literatur, die sie beide wie viele andere aktiv betrieben: Walter wird es gewesen sein, der Karls Beziehung zur Bildenden Kunst allgemein und zur Moderne im Konkreten gefördert hat, galt ihm dieses Genre doch eben so viel wie Lyrik und Belletristik. Während seiner späteren Zeitungs- und Verlagstätigkeit gab er Anthologien heraus, nicht nur literarische, sondern auch solche zur Malerei und Bildhauerei, beispielsweise: Kämpfer und Gestalter – Mensch und Arbeit in der bildenden Kunst. Von Constantin Meunier über Diego Rivera und Käthe Kollwitz bis Max Liebermann oder Stimmen der Menschlichkeit – Künstler mahnen. Von Michael Wohlgemut und Matthias Grünewald über Honoré Daumier bis Edvard Munch und Alfred Kubin. Ausgaben, die, selbstverständlich mit Widmung versehen, ebenfalls in Karls Bücherschrank Eingang fanden.

Ein gewisses malerisches Interesse hatte schon das Kind Karl wie viele andere Kinder auch, er sammelte die farbigen Bildchen, Einlagen von Zigarettenschachteln, und klebte sie in die dafür vorgesehen Alben. „Sie waren schön bunt und sehr lehrreich.“ Bis Lebensende besaß hatte Karl noch zwei dieser Bilderbücher Aus Wald und Flur, das eine über die Tiere unserer Heimat, das andere über die Pflanzen unserer Heimat.

Dann gibt es im Nachlass Zeichnungen, die der Schüler Karl während des Zeichenunterrichts gefertigt haben könnte, denn in der Schule wurden dem Zeitgeist entsprechend Schriftzeichen und Werbematerialien entworfen. „Werbung nahm im gesellschaftlichen Leben einen immer größeren Platz ein. Das war mir auch Anregung für meine Berufswahl.“ Wahrscheinlicher ist aber dennoch, dass sie der Lehrling Karl während der Ausbildungszeit zeichnete. Zweimal wöchentlich nach dem Arbeits- bzw. Ausbildungstag an den Maschinen schloss sich der dreistündige Besuch der Fortbildungs- (heute Berufs)schule an, in der Werbung ebenfalls einen breiten Raum einnahm. Die Qualität der Arbeiten lässt vermuten, dass sie von der Hand des Lehrlings Karl stammen. Es sind zumeist farbige Kombinationen aus Bild und Buchstabe. Ein Blatt zeigt einen Clown in einer Kaffeetasse rührend, halb so groß wie er selber, und darunter steht dreizeilig: SPIEMA KAFFEE ERSATZ; ein anderes zeigt drei Garnrollen vor einem mittelalterlichen Schlüssel, darunter: SCHLÜSSELGARN. Karl erzählte, dass ihn schon damals an der sich entwickelnde Werbung eigentlich nicht das Werben, sondern das Darstellen interessierte. „Da zeigte sich ein ganz neuer Stil“, heute mit Neuer Sachlichkeit bezeichnet.

In seinem Beruf hatte er dann durch den Kunstdruck, die Reproduktion und Vervielfältigung von Kunstwerken immer wieder Kontakt zur Bildenden Kunst aller Jahrhunderte. Seine besondere Vorliebe zur Moderne entwickelte sich laut Karls Notizen in der Arbeiterjugend. „Wir beschäftigten uns nicht nur mit Literatur, auch mit Moderner Malerei“. So jedenfalls heißt es außerdem in einem Referat, dessen Ausarbeitung ebenfalls der hinterlassenen Zettelsammlung beiliegt. Sicher ist jedoch, dass es keinen Zirkel dieser Art gab, also muss der Austausch zwar während der Mitgliedschaft in der Arbeiterjugend, aber nur unter einigen Mitgliedern stattgefunden haben. „Dazu kamen auch Vorträge.“ Vielleicht hat er sie überhaupt nur mit Walter auf dessen Anregung hin besucht.

Auf einer Reihe von elf aneinandergehefteten, mit Tinte beschriebenen A-5-Blättern, leider undatiert, unter dem Titel Arbeitende Jugend und bildende Kunst , und einem offensichtlich später mit blauem Buntstift erweitertem Titel, nämlich Kulturpolit. Ausflug, finden sich Stichpunkte zu diesem Thema. Zwei definitionsartige Bemerkungen sollen herausgegriffen und hier abgedruckt werden (samt Unterstreichung, Zeilenumbruch und Interpunktion), um einen Eindruck davon zu vermitteln, wie sich Karl bemühte, seine Bildung im Selbststudium voranzutreiben, vielleicht der Walters anzugleichen. Offensichtlich handelt es sich um Notizen, die er bei der Lektüre zum Thema Kunst zusammengestellt hatte: Impressionismus – Eindruck Zola – ein Stück Natur gesehen durch ein Temperament. Ein Stück Natur ist die Grundlage, die Auslösung des Kunstwerkes. Kampfstellung gegen Akademiker – vom Inhalt ausging Die Staffelei steht draußen. Anstelle der dunklen Töne der alten Bilder tritt strahlende Helligkeit und eine wundersame Farbigkeit – Feinheit wird entwickelt Erfassung des Augenblicks, der Bewegung in Farbe und Licht unter Verzicht auf genaue Ausführung der Formen. Expressionismus. Die moderne Kunst fordert Menschen mit starker Innerlichkeit, die nicht …(Wort unleserlich, d.A.) Wirklichkeit, erlesene Malerei, sondern die in allen Erscheinungen des Menschen wie Tieres – Landschaft wie Stadt lebendiges Geheimnis ahnen. – Gewaltige Erschütterungen der bürgerlichen Welt gehen voraus. Nur Ausdruck persönlichsten Erlebnisses sein. Es gibt keine geschlossene Richtung Es sollen Beiträge sein zur ästhetischen Ordnung der Farben auf einer Fläche

Vielleicht sollte an dieser Stelle erwähnt werden, dass Karl sich nicht nur im „Individualgang“ privat und zu Hause oder in seiner Gruppe weiterbildete. 1924 belegte er an der Abendschule einen Sprachkurs „Esperanto“, 1949 ein Semester als Gasthörer an der Deutschen Hochschule für Politik und hörte dort auch Vorträge über Literatur, so von Max Barthel. Möglicherweise hatte sich dieser schon selbst entnazifiziert. Karl jedenfalls hatte seinen Gasthörer-Ausweis gerahmt, in seiner vorletzter Wohnung auch an die Wand genagelt.

Zurück zur Bildenden Kunst: Ohne diesen Freund Walter G. Oschilewski hätte Karl Richter sicher auch andere Bilder in seiner Wohnung aufgehängt als die großformatigen Farbdrucke von Macke, Zille, Klee, Marc, Nolde, Barlach, Beckmann. Um diese Auswahl zu treffen, bedarf es nicht nur eines geschulten Geschmacks, sondern überhaupt erst einmal der Kenntnis der Klassischen Moderne.

Unter seinem Bilderschmuck waren nicht nur Drucke, auch Originale, darunter je eine von Heinrich Zille und Käthe Kollwitz, letztere allerdings ohne Signatur. Karl hatte sie kurzerhand abgeschnitten, damit das Blatt nicht als eine Arbeit der von den Nationalsozialisten verfemten Künstlerin entdeckt werden konnte, denn auch Karl musste eine Hausdurchsuchung, die Beschlagnahme seines Rundfunkapparates sowie politischen Materials über sich ergehen lassen. Auch eine zeitgenössische Grafik, die des Reinickendorfer Künstlers Siegfried Kühl, mit eine an ihn gerichtete Widmung hatte Karl an der Wand.

Vor seinem Umzug in die Seniorenwohnung lebte Karl nämlich dreieinhalb Jahrzehnte im Berliner Bezirk Reinickendorf, wo er ab den 70er Jahren die Ausstellungen hier ansässiger Künstler besuchte. 1986 wurde er Mitglied des Förderkreises Kultur und Bildung sowie Ende der 90er, er war selbst schon über 90, Mitglied des Förderkreises Rettet die Grafothek eben jenes Bezirks – sicher in Erinnerung an die ihm gewidmete Grafik und manch gelungene Ausstellung. „Wo es etwas zu retten gab, war ich im allgemeinen dabei“, meinte Karl, speziell aber dachte er an Kunstrettung. So verurteilte er konsequenterweise Theaterschließungen, Finanzkürzungen für Kunst und Kultur, aber auch das mangelnde oder gar fehlende Interesse an Kunstprozessen seiner Zeit-, besonders seiner Parteigenossen. Schon der Tradition wegen hätte Karl erwartet, dass das Bewusstsein um das Bildungsstreben der Arbeiterklasse in der Sozialdemokratie Anfang des letzten auch zu Beginn unseres Jahrhunderts die Mitglieder dieser Partei zu kräftigen kulturellen Aktivitäten anspornen müsste. Nun wollte er das Traditionsbewusstsein nicht unbedingt so weit getrieben sehen wie bei sich selber: er hatte Ende der 70er Jahre aus eigener Tasche drei Viertel der Kosten für die Restaurierung der Traditionsfahne des 1892 gegründeten Gutenbergbundes beglichen.

„Es gibt junge Leute, denen jedes Interesse an Kultur fehlt.“ In Karls hundertjährigen Augen war noch ein 60jähriger ein junger Mensch! Den beklagenswerten Mangel stellte er massiv auch innerhalb dieser Generation fest. Er jedenfalls überlegte im Jahr 2000 ernsthaft, ob er die angetragene Mitgliedschaft im Frohnauer Künstlerverein annehmen sollte. „Soll ich?“, fragte er wiederholt. Er war 96 Jahre alt, und er lehnte deshalb ab.

Für Karl war Mitgliedschaft nicht denkbar ohne Aktivität, die wiederum nicht ohne Tatkraft, und die ließ in diesem hohen Alter nach. Die letzten beiden Lebensjahre saß er außerdem im Rollstuhl. Was aber nicht heißt, dass er dadurch inaktiv war! Er manövrierte sich auf seinen Rädern zwischen Büchern und Aktenordnern, Zeitungsstapeln und Postsendungen hindurch, wechselte vom Schreib- zum Couchtisch, schrieb, las, reimte, redigierte und telefonierte, empfing Besucher, vergaß niemals, diese mit „herzlich willkommen“ zu begrüßen, empfahl abzulegen, bewirtete sie, indem er ihnen zurief, hinter welcher Küchenschranktür sich die Tassen und hinter welcher sich der Kaffee befand, nickte zu jeder befolgten Anweisung und lud zum Platznehmen ein. Egal, für welche Zeit man sich bei Karl angemeldet hatte, ob morgens früh oder abends spät, er war vom Scheitel bis zur Sohle empfangsbereit. Nur im letzten Jahr geschah es immer öfter, dass er keine Krawatte trug.

Noch zwei Jahre zuvor in der Reinickendorfer Wohnung stand er zur Begrüßung in der Wohnungstür: weißes Hemd, geknöpftes Jackett, gebundene Krawatte. Einmal kam die erwartete Besucherin zu früh, Karl öffnete, die Krawatte noch in der Hand. Unschlüssig fragte er, den Schlips anpeilend, „soll ich den noch umbinden“ und antwortete postwendend: „Der alte Brauch wird nicht gebrochen“, machte auf dem Absatz kehrt zum hinter ihm hängenden Spiegel und band die Krawatte um. Damals nahm Karl seinem Besuch den Mantel ab, führte ihn ins Zimmer, schob ihm den Stuhl hin. Auf dem Tisch mit frischaufgelegtem Tischtuch stand der frischaufgebrühte Kaffee, lag neben der Untertasse die Serviette und in einem Schälchen Süßes. Man bedenke: Er war ein alleinstehender Mann, seit einem Jahrzehnt verwitwet. Kultur! Lebensstil.

Wie im privaten, so musste er sich auch im öffentlichen Raum zurücknehmen, die körperliche Schwäche und, daraus folgend, mehr Inaktivität akzeptieren. „Das fällt schwer.“ Er wäre gern überall dabei gewesen, Konferenzen, Vortragsabende, Kulturveranstaltungen, nicht nur, um dabei zu sein, nein, um mitzureden, mitzuentscheiden, mitzuwirken. Aber allein das ewige Organisieren eines Transportes zwang, nur noch ausgewählte Veranstaltungen, aber die auch regelmäßig, zu besuchen. Dazu gehörten vor allem die Berliner SPD-Parteitage und die Landesvorstandssitzungen der „SPD AG 60 plus“, wobei er den Älteren in Partei wie Gewerkschaft stets willkommen war, galt er doch bei den SPD- und ver.di-Senioren in der Reinickendorfer SPD und im Fachbereich Medien als „Institution“. Er lernte sich beschränken und lernte, dass mancher seine Abwesenheit nicht beklagte. Viele Weggefährten hatte Karl längst überlebt, auch seinen Freund Walter G. Oschilewski, und vielen Jüngeren war er persönlich fremd, auch wenn sie ihn als Person kannten. „Sie haben keine Erinnerung an mich.“ Niemals hätte er diesen Kummer rundheraus gezeigt, ihm war auch Verhaltens-Kultur eigen. Er blieb der „freundliche, fröhliche und (geistig) fitte“ Karl Richter.

Karl verfügte bis zuletzt über einen lebendigen, ja sprühenden Geist. Hier ein Beispiel: Es war sein 101. Geburtstag. Um zu gratulieren stehen vor seinem Rollstuhl Offizielle, Bekannte, Kollegen und mehr oder weniger enge Freunde Schlange. Die Gratulationscour dauert schon ewig, Karl ist längst zugeschüttet mit Wünschen und Blumen. Er ist erschöpft. Da ist zum Gratulieren ein Ehepaar an der Reihe, das zu seinen wenigen intimen Freunden gehört, und zufällig nach diesem eine eben solche Freundin. Karl reagierte: „Ach, im Bunde die Dritte!“ Diesmal hatte er Schiller zur Hand, trotz Erschöpfung. Karl genoss die Verblüffung, das Lachen, die Bewunderung für seine Schlagfertigkeit, seinen Witz und sein abrufbares Repertoire an Redewendungen.

Diese Geistesblitze, die ihm auch das eigene Dasein erheiterten, vertrieben aber nicht die Traurigkeit über den schrumpfenden Kreis ihm lieb gewordener Menschen. Es gab einige sehr treue Freunde mehr als die erwähnten drei Gratulanten, und unter anderem allsonntägliche Besuche über Jahre hinweg. Es gab Bücher und Zeitungen, handverlesene Fernsehsendungen, denn Karl forstete, seinem Anspruch nach kulturellem Niveau entsprechend, gründlich die TV-Angebote durch, es gab Briefe und Anrufe. Und trotzdem Einsamkeit. Trost gab ihm die Gewissheit, seinen Platz zwar weniger in der Erinnerung vieler Einzelner, dafür um so mehr im kollektiven Gedächtnis der Allgemeinheit zu wissen: Wer schreibt, der bleibt. Das tröstete sogar sehr.

Er verfasste ja nicht nur Reden und Artikel (es waren rund 500), sondern 1962 den Hauptbeitrag der Broschüre Hundert Jahre Landesbezirk Berlin der Industriegewerkschaft Druck und Papier im DGB, 2. Auflage 1992; dann 1971 als Mitautor der Berliner Gewerkschaftsgeschichte von 1945 – 50 einen gewichtigen Teil der Niederschrift; oder 1983 die Abhandlung 1933 – Zerschlagung der Gewerkschaften durch die Nazis in den Grafische Nachrichten, sodann 1988 wieder den Hauptbeitrag in der Broschüre DGB Berlin. 40 Jahre DGB (UGO). 40 Jahre Kampf für Freiheit und Menschenrecht, und im Jahr 2000 wirkte er an der Abfassung des Buches Gearbeitet, Gewerkschaftet, Gewohnt – 75 Jahre Verbandshaus der Deutschen Buchdrucker mit. Alles Arbeiten, die anzufertigen ihm sein berufliches und gewerkschaftspolitisches Engagement abgefordert hatte.

Darüber hinaus hatte er 1987 als 83jähriger in jenem Reinickendorfer Förderkreis Kultur und Bildung eine Broschüre erarbeitet: recherchiert, geschrieben und herausgegeben unter dem Titel Erinnerungen Reinickendorfer Sozialdemokraten – 1933-1945 Jahre der Unmenschlichkeit. Das von ihm ausgewählte Titelblatt-Bild zeigt in expressionistischer Darstellung, auf das Rädern im Mittelalter anspielend, eine auf das Hakenkreuz gebundene, geschundene Figur. Es sind Kurzbiografien, zum Teil in mühseliger Kleinarbeit über Monate zusammengetragen. Und obwohl ihm das Abfassen dieser Schicksale schon seinen ganzen Einsatz abverlangte, versäumte es Karl nicht, zwei weitere Kapitel in das Büchlein aufzunehmen: über die Verbrennung von Büchern und die Vertreibung von Künstlern, selbst wenn letztere nur in einer, und wenn noch so losen Beziehung zu Reinickendorf standen. Das hatte wenig mit dem Beruf, aber viel mit seinen außerberuflichen Interessen zu tun.

Drei Jahre später, 1990, er war 86 Jahre alt, schrieb er sein für die Nachwelt vielleicht interessanteste Werk, das schmale, dreißigseitige Bändchen Auf Schusters Rappen – Mein Wanderjahr 1923. In ihm bündelt sich alles, was Karl als kulturellen Menschen auszeichnete. Beginnend mit der Niederschrift selber, sie ist ein kultureller Akt. Er beschreibt die Walz und ruft sie so ins öffentliche Bewusstsein, es ist ein Akt der Traditionsvermittlung. Die Titelgebung zeugt von seiner literarischen Affinität: die Verwendung der Metapher „Auf Schusters Rappen“ für das Verb „reisen“. Er gibt sich als Freund des Verses zu erkennen, denn er beginnt mit einem Teil aus seiner gereimten Vita, einem stichwortartigen Rückblick auf Jugendbewegung und Berufswahl. Dann wechselt er in den Erzählton, in welchem er die vierteljährige Wanderzeit beschreibt, und obwohl dieser Ton überwiegend schwärmerisch ist, fehlt es nicht an sachlichen, erklärenden Informationen zur Zeit und zur Walz. Er wusste, dass er diesbezügliche Wissenslücken beim heutigen Leser stopfen musste.

Karl wollte also eigene Kenntnisse, eigene Erfahrung weitergeben. „Ich bin ein Zeitzeuge. So viele gibt es nicht mehr.“ Im Mai 1995 trat er als solcher in der n-tv-Sendung Heimatfront auf, auch schon im Mai 1981 für die London Weekend Television, wozu er sich auf fünf A-5-Blättern in Stichpunkten vorbereitete, und im März 1881 gab er der Zeitschrift der Berliner SPD Berliner Stimme ein Interview, wovon ebenfalls Skizzen vorhanden sind; ganz abgesehen von den vielen Auskünften, die er Zeitungsjournalisten in all den Jahren gab. Es war Karls Anliegen, zu jeder Zeit: das Vergangene als Teil gemeinsamer Geschichte zu erinnern.

Wie trat er die Fußreise an? An der Seite Walter G. Oschilewski, auf dem Rücken Wehrmachtstornister, in ihm die notwendigen „Siebensachen“ und, nicht minder notwendig, Bücher: Whitmans Grashalme und Hölderlins Hyperion. Zwei achtzehnjährige, den Gesellenbrief gerade in der Tasche, nehmen Hölderlin mit auf die Fußreise, welch kultureller Anspruch! Beide Gesellen feierten ihren 19. Geburtstag unterwegs, auf dieser Wanderschaft, die sie antraten im Bewusstsein, Welt kennen zu lernen. Ihr Fußweg führt sie von Deutschland über die Tschechoslowakei nach Österreich und wieder zurück. „Das war damals die einzige Möglichkeit, etwas von der Welt zu sehen.“ Ein Vierteljahrhundert später erst wird er schnell mal per Zug in andere Länder reisen.„Unser Wandern war aber auch darauf gerichtet, Geschichte zu entdecken, wir wollten sehen, was durch die Jahrhunderte lebendig geblieben ist, wo Mittelalter und Neuzeit sich treffen.“

Was an der Niederschrift besticht, ist das Erinnerungsvermögen. Zwischen dem Erleben der Walz und ihrer Wiedergabe lagen 67 Jahre. Sicher hatte sich besonders das eingeprägt, was ihm schon damals wichtig war – er assoziierte Künste und Künstler: beim Anblick der Moldau Bedrich Smetana, beim Besuch von Nürnberg Albrecht Dürer, Adam Kraft, Peter Vischer d. Ä. und Hans Sachs, „dessen Spiele wir als Jugendgruppe aufgeführt hatten“, in Heiligenstadt Ludwig van Beethoven, in Tulln das Nibelungenlied.

Die erlebte Solidarität war ihm auch nichts Fremdes, die wurde wie Kunst und Kultur in der Jugendgruppe praktiziert. Unterwegs aber nahm sie Formen an, die ans Existentielle grenzten. Denn trotz Gegenseitigkeitsverträgen mit den europäischen Bruderorganisationen, die für Reiseunterstützung und Quartier sorgten (weshalb die wandernden Buchdrucker auch „Aristokraten der Landstraße“ genannt wurden), war beileibe nicht jeder Tag und jede Nacht der dreieinhalb heimatlosen Monate „abgesichert“: Dennoch war zu guter Letzt immer wieder ein Dach über dem Kopf oder eine Schüssel warmen Essens auf dem Tisch, egal in welchem Land. Die Handwerksburschen halfen untereinander, und sie halfen Fremden. Vielleicht waren aber auch unsere beiden singend dahinziehenden Wandersburschen besonders gern gesehen! Lieder helfen in schlimmen Lebenslagen, das hatte Karl doch schon als Kind erfahren.

Zehn Jahre später, ab 1933, dienten das abendliche Proben des Buchdruckergesangsvereins Typographia und des SPD-nahen „Jungen Chores“ als Treff für konspirative Arbeit. Die Zusammenkünfte, die wegen der damals langen Arbeitszeit erst 21 Uhr beginnen konnten, eigneten sich ausgezeichnet zum Austausch verbotener Gedanken. An die Stelle freier Gewerkschaftsorganisation war die Zwangsorganisation der Deutschen Arbeitsfront getreten. Trotzdem hielten Vorstandsmitglieder, Vertrauensleute und Teile der Kollegenschaft, Karl unter ihnen, persönliche Beziehungen aufrecht – eben unter dem Schutz der „Geräuschkulisse“ des Gesanges. So pflegten die Chöre, ersterer 1879 gegründet, nicht nur das Volks- und Kunstlied, sondern auch den politischen Zusammenhalt. Keiner der beiden wandernden Freunde hätte das zehn Jahre zuvor geahnt.

Auch die Liebe zur Natur hatte Karl schon auf die Walz mitgenommen. Den Keim dazu hatte die Familie gelegt. „Vater, Mutter, Bruder, Schwester und ich …. zogen an Sonn- und Feiertagen zu unserer Laube. Wir verließen die Straßen mit Mietskasernen und grauen Höfen und vor uns winkten Gärten, Wiesen, frische Luft mit Blumenduft, Ungebundenheit und Sonne“, heißt es in dem sehr heiteren Artikel Pankow – Tadellose Laubenwelt. In Erinnerung an die Kriegsverschickung in die Masuren 1917 heißt es schwärmerisch. „Herrlich in Mutters freier Natur Kühe hüten und dabei Mundharmonika spielen!“

Diese Töne ähneln dem der Niederschrift Auf Schusters Rappen. Fast überschwänglich beschreibt er Landschaft: Wiesen, Felder, Seen, Hügel, Täler, Berge, Himmel und Sterne, die Farben bei Tag und bei Nacht, Sonnenschein und Regengüsse. „Was uns bevorstand, hatten wir in der Jugendgruppe ja bereits durch unsere bisherigen Wochenendfahrten „ins Jrüne“ erfahren. Wandernd und musizierend waren wir durch die Mark gezogen.“ Mit Mundharmonika, Zelt und Brotbeutel, und vielleicht noch im selben Monat Mai 1923, gar ein Wochenende zuvor, ehe Karl und Walter losstapften. Als Gruppe hatten sie nachts unter freiem Himmel geschlafen und zuvor am Lagerfeuer gesungen und getanzt: Volkslieder und Volkstänze. Die damals auf den Tanzböden hingelegten Schieber- und Foxtrottrunden lehnten diese Jugendlichen genauso ab wie Rauchen und Trinken. Zeitlebens blieb Karl Nichtraucher und Nichttrinker. Wenn das nicht Kultur ist! Auf Maiveranstaltungen der Partei, „wo auch nach diesen modernen Rhythmen geschwoft wurde“, machten sie sich in den Tanzpausen mit Volkstänzen breit – aus Protest. „Nur Walzer haben wir gelten lassen.“ Karl lächelte immer nachsichtig mit sich selbst, wenn er das erzählte. Besonders, wenn er an das „Tanzen“ der heutigen jungen Leute und ihre Musik dachte.

Natur erleben blieb Karl lebenslang Lebensgenuss. Das hatte sich auf der Walz nur noch gefestigt. Viel später, zusammen mit seiner Frau, drängte es ihn hinaus, und zwar hoch in die Berge. Als die Mark Brandenburg durch Deutschlands Teilung weiter weg lag als Bayerns Gebirge, verbrachten sie als „nimmermüde Bergwanderer, die wir waren,“ viele Urlaube in Oberstdorf und andernorts im Allgäu. Über diese Privat- und bald auch über die Studienreisen mit Gewerkschaftsdelegationen ins Ausland wie in die USA, nach Norwegen, Schweden, in die Türkei oder mit der Typografischen Gesellschaft nach Israel hielt Karl Lichtbildervorträge.

Das war in den 50er, 60er und 70er Jahren. Diapositive statt Papierfotos zu machen war hochaktuell, seine Vorträge fanden schon deshalb ihr Publikum. „Ich hatte mir eine gute Kamera gekauft.“ So weit war er 1923 auf der Walz noch nicht, Fotos knipsen während der Wanderschaft, das hatte er nicht drauf. Nach seinem Tod, bei der Haushaltsauflösung, fand sich eine Minox-Kamera. Die tausende Dias allerdings hatte Karl nach seinem Umzug in die Seniorenwohnung in einem Anfall von Aufräumwut entsorgt. Zwar hatte er zuvor versucht, sie zu veräußern, konnte aber niemanden für die Abbildungen seiner Reisen interessieren. Ganz im Gegenteil zu seiner Briefmarkensammlung, die fand Absatz in der Familie seiner ersten, im Krieg verstorbenen Ehefrau. Im Nachhinein bereute er den Verlust der Diapositive, er hätte sie lieber samt Landkarten, Faltblättern, Ortsbeschreibungen und anderen Belegen seiner Reisetätigkeit im Karl-Richter-Verein aufgehoben gewusst.

Ob er auf der Walz Naturalien sammelte, oder ob Walter dies tat, hat Karl in seiner Niederschrift nicht festgehalten, wahrscheinlich also nicht. Erst während der Urlaube mit seiner Frau las er Steine und Kristalle auf und komplettierte die Sammlung mit Muscheln. Er gab der Natur ihr neues Heim in seinen Bücherschränken. Stück für Stück hatte er sie auf einem bunten Bortenband vor den Bücherrücken placiert, neben Fotos und zwischen selbstbemalten Zinnfiguren. Das Bemalen, also Auftragen von Farbe reizte ihn, erinnerte ihn an seine malerischen Arbeiten in Kindheit und Jugend, und eine zeitlang betrieb er diesen Spaß, verlor aber bald wieder die Lust dazu.

Nach Deutschlands Vereinigung setzte der alte Karl Richter, gerade verwitwet, die Ausflüge des jungen Karl Richter ins Brandenburger Land fort. Nicht mehr auf Schusters Rappen, sondern in Wagen von Verwandten und Freunden oder den Bussen, mit denen die Alten Barden, die SPD-Senioren und die Arbeiterwohlfahrt ins Märkische einluden. Es gab für ihn keine größere Geburtstagsfreude als ein solcher Ausflug, er konnte sich tagelang darauf freuen und stundenlang von nichts anderem reden. Sechs Tage vor seinem Tod saß er im Rollstuhl unter Eichen in der Uckermark, blickte träumend in die Hügellandschaft, auf den See, genoss die Teestunde im Café des ehemaligen Hauses der Schriftsteller Achim und Bettina von Arnim in Friedenfelde. Es hatte sich wieder einmal aufs Schönste die Literatur mit der Landschaft verbunden.

Ähnliche Eindrücke zuhauf hatte ihm zwar auch die Wanderschaft beschert, aber es gab einen kulturellen Bereich, den er sich bis zum Antritt der Walz noch nicht erobert hatte. Seine Neuentdeckung per pedes waren Städte, ihre Struktur und ihre Architektur, „wie die Baukunst Macht und Reichtum repräsentiert“. Im nicht minder überschwänglichen Ton, mit dem er die Natur nachzeichnete, benennt er Bauten. Nach sieben Jahrzehnten erinnerte er sich ihrer, als hätte er sie noch immer im Blick, dabei doch nur vor dem inneren Auge. Nun, sie waren damals zu zweit unterwegs, und zwei sehen mehr als einer, da verdoppelten sich die Eindrücke auch emotional. Der Buchdrucker bestärkte den Schriftsetzer und dieser den Buchdrucker. Das hat nachhaltig gewirkt, ein Leben lang. Wie alle künstlerischen Erlebnisse fanden auch diese einen ungebrochenen Nachhall in Karl.

Nur deshalb konnte er mit Eintritt in die Berufstätigkeit seine beruflichen Erfahrungen in kulturelle Aktivitäten umsetzen, und so begann folgerichtig die Blütezeit seiner Kreativität mit dem Eintritt in das Rentenalter. Er hatte den enormen Erfahrungsschatz aus einem aktiven Leben als Material zur Verfügung, aus dem er fast unermüdlich zu schöpfen wusste. Ob Karl aber ohne die Entwicklung seiner künstlerischen Sensibilität noch vor Antritt der Wanderschaft für alle geistig-kulturellen Werte so empfänglich gewesen wäre, das kann getrost bezweifelt werden.